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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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blieb, entschloss sich der Rachsüchtige an diesem Aprilabend zum wohl geplanten Irrsinn. Kaum setzte sich das Vehikel in Bewegung, stürmte der Halbwüchsige auf Popy zu und feuerte eine Überdosis Säure auf sie ab. Wie ein Lauffeuer fraß sich der Schwefel in ihr Fleisch.
    Die beiden Frauen saßen jetzt nebeneinander, auf winzigen Plastikhockern, während zwei Pflegerinnen – von Naripokkho bezahlt – vorsichtig die offenen Wunden abtupften und anschließend sacht Wasser über die vergewaltigten Gesichter und Körper gossen. Dann gingen sie. Jetzt begann das Bild.
    Ich war nicht in der Waschküche, deren kaputte Tür ausgehängt danebenlehnte. Ich stand fünf Meter entfernt in einem Eck, diskret, wollte ihnen die Scham nicht antun, dass ein Fremder sie so nackt und verlassen sah. Die Absurdität dieses Augenblicks wurde durch das Lachen von Kindern noch bestärkt, die hinter der Mauer Fußball spielten. Ich habe mich damals gefragt, ob es tiefere Schichten von Einsamkeit gibt. Ich weiß es nicht, natürlich nicht. Ich sah nur Asma und Popy, die vollkommen still und unbeweglich auf diesen bizarr kleinen Stühlen hockten. Wohl warteten, dass sie jemand abholte und zurückbrachte in den dritten Stock. Vögel zwitscherten, die fröhlichen Kinderstimmen. Ich habe nicht geheult. Das Bild hat mich nicht erreicht. Es war zu monströs. Ich habe es nicht zugelassen. Instinktiv wehrte ich mich dagegen. Aber ich habe es abgespeichert. Seither trage ich es mit mir herum. Unlöschbar.

WOHLTATEN UND NIEDERLAGEN
    DER SPRACHE

    VERSE SCHMIEDEN, RACHE SCHMIEDEN
    Israelis und Palästinenser werfen sich wieder Missiles zu. Beide Seiten Opfer, beide borniert. Wobei die israelische Seite entschieden bornierter und erfolgreicher tötet als ihre Gegner. Während der Zeitungslektüre über die Unbelehrbaren fällt mir ein, dass ich vor Jahren, nicht weit vom Gazastreifen entfernt, in einem Café saß. In Ägypten, auf der Halbinsel Sinai. Auch an diesem Tag flogen Geschosse. Was sonst.
    Ich saß still im Eck und las die Gedichte eines Friedfertigen. Von Konstantin Kavafis, einem Griechen, der 1863 in Alexandria geboren wurde und dort sein Leben verbrachte. Er ist wohl der einzige Dichter der Weltgeschichte, der bis zu seinem Tod nie ein (offizielles) Buch veröffentlicht hatte und doch wie ein schreibender Gott verehrt wurde.
    Seine so privilegierte, so problematische Existenz. Luxuriös aufgewachsen, in England erzogen, sich in Alexandria ganz seinen Neigungen und Versuchungen hingegeben. Publizierte in Zeitungen, gab bisweilen einen Privatdruck heraus, arbeitete in der Nilverwaltung. Was an seinen Gedichten so bewegt, ist der Mut, die Radikalität, mit der er von der Einmaligkeit und der skandalösen Kürze des Lebens schreibt. Der man nur mit Hingabe an die Sinnlichkeit begegnen könne. Die Sinnlichkeit der Sprache und der Körper. Oft spricht Kavafis von seiner Sucht nach Schönheit, der Sehnsucht, sie zu berühren und von ihr berührt zu werden. Als hätte er geahnt, dass er bereits 1933 an Rachenkrebs sterben würde. Einmal verweist er so augenfällig auf unser aller Todsünde: »Und dennoch scheint ihm, die Zeit seiner Jugend /erst gestern war. Welch kurze Dauer, welch kurze Dauer. / Und er grübelt, wie sehr die Vernunft ihn gefoppt/und wie sehr er ihr vertraut hat – welch Wahnsinn! – / der Lügnerin, die sagte: ›Morgen, du hast noch viel Zeit.‹/ Erinnert sich der Begierden, die er unterdrückt, /der vielen / Freude, die er geopfert hat.«
    Kavafis war auch Kind, auch Opfer seiner Zeit. Tagebuch-Einträge berichten von seiner »Unfähigkeit«, seine Homosexualität zu unterdrücken, von seinen Schuldgefühlen, wenn er in erotischen Notzeiten – »ich schwöre, ich werde es nie wieder tun!« – masturbiert hatte. (Was man nicht ohne Grinsen zur Kenntnis nimmt.) Dennoch, meist ließ ihn die Bigotterie der moralisch Hochgerüsteten kalt. Ich will die letzten Zeilen eines Gedichts vorstellen, es heißt Fragte nach der Machart . Es geht um einen jungen Kerl, der am Ende seiner Arbeit nach Hause schlendert und plötzlich in einem schäbigen Laden ein Gesicht – Frau?, Mann? – sieht, das ihn hineinzieht:
    … und er ging hinein und bat,
    dürft er wohl ansehen farbige Taschentücher.
    Fragte nach der Machart der Taschentücher,
    und was sie kosten mit erstickter Stimme,
    fast erloschener unter der Begierde.
    Und entsprechend kamen die Antworten,
    halb zerstreut mit gedämpfter Stimme,
    mit darunter verborgenem

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