Süchtig
worden.
»Das war die schmutzige Seite der Dotcom-Ära, von der man nichts liest«, sagte sie. »Die Risikokapitalanleger fielen sich gegenseitig in den Rücken – in der Presse, gegenüber den großen Finanzdienstleistern wie Goldman Sachs und Morgan Stanley. Nicht am Anfang, als alles glatt lief. Aber als sich der Boom abschwächte, kämpften wir alle verzweifelt darum, mit unseren Unternehmen an die Börse zu kommen. Es war ein allgemeines Hauen und Stechen. Wir waren besonders rücksichtslos.«
Die Sache mit dem Spion war Glenn Kindles ganz persönliche Note.
Sein Plan war erfolgreich. Zu erfolgreich, wie Annie sagte. Presse und Börsenaufsicht hielten überall nach künstlich aufgeblähten Bilanzen Ausschau. Der Börsengang des Wettbewerbers musste ausgesetzt werden – was im Endeffekt zum Zusammenbruch des gesamten Marktes im Juni 2001 beitrug. Leider gerieten
in der Folge der gesamte Markt und insbesondere die Branche, in der Vestige tätig war, ins Blickfeld der Ermittlungen.
»Wir haben uns selbst gleich mit erledigt«, sagte Annie mit einem bitteren Lächeln.
Ich stand auf und ging ans Fenster. Mit den Fingern schob ich den Vorhang auseinander. Bis auf meinen Explorer, einen verbeulten blauen VW-Bus und ein großes amerikanisches Modell war der Parkplatz leer. Ein Versuch konnte nicht schaden. Ich lachte in mich hinein.
»Da steht aber einer auf dem Schlauch.«
»Wer? Was?«
Ich sagte erst einmal gar nichts, um Zeit zu gewinnen, und sah nur weiter aus dem Fenster.
»Was ist denn los, Nat?«
»Das arme Würstchen hat sich ausgesperrt. Oder der Kerl will den Oldsmobile klauen.«
Annies Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie wollte ans Fenster treten, aber ich fing sie ab und schloss sie fest in meine Arme. Erst wehrte sie sich, doch dann erwiderte sie meine Umarmung.
»Ach, Nat.«
Sie löste sich von mir und ging zum Fenster. Nichts zu sehen. Ich behauptete, der Unbekannte habe etwas vom Sitz genommen und sei damit verschwunden. Sie griff nach Schlüsseln und Brieftasche.
»Bin gleich wieder da.«
Unterdessen sah ich mir die Reisetasche genauer an. Blusen, Schminkzeug, nichts Aufregendes. Bis auf ein Stück Papier in einer der Seitentaschen. Eine Mietquittung
für ein Hausboot, das Monkey hieß. Liegeplatz 47, Callville Bay Marina, Lake Mead. Gerade noch rechtzeitig schloss ich den Reißverschluss wieder.
»Wie sah der Kerl aus?«, fragte sie.
Ich zuckte die Achseln. »Du verschweigst mir etwas, Annie. Die ganze Geschichte passt überhaupt nicht zu dir. Ich habe das Gefühl, dass du jemanden deckst – vielleicht deinen Vater. Wieso du das tust, ist mir ein Rätsel. Lass es sein, in deinem eigenen Interesse. Von uns beiden will ich gar nicht reden.«
»Ich brauche Verbündete, Nathaniel, jetzt mehr denn je. Bitte vertrau mir. Halte durch, es dauert nicht mehr lange.«
»Ziemlich viel verlangt. Deine Geschichte wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.«
Das saß. Sie holte tief Luft. »Wie gesagt, die Sache geriet außer Kontrolle.« Es klang, als würde sie am liebsten gar nichts mehr sagen.
»Erzähl es mir«, drängte ich mit ausgestreckten Händen.
Sie sagte, Vestige habe kurz vor dem Börsenkrach eine weitere Gruppe potenter Investoren aufgetan, die noch einmal hundert Millionen einbrachten. Diese Anleger hätten sich auf die gefälschten Geschäftsberichte und den angeblich bevorstehenden Börsengang verlassen. Als die Branche und der gesamte Aktienmarkt ins Trudeln gerieten, sei ihnen schnell klar geworden, was passieren würde.
»Wir wiesen darauf hin, dass die gesamte Technologiebranche von der Krise erfasst worden war«, erzählte Annie. »Selbst Giganten wie Cisco und Intel kamen nicht ungeschoren davon.«
Im Unterschied zu anderen Dotcom-Pleiten hieß einer der Investoren Glenn Kindle. Kindle war einer der Mitbegründer von Silicon Valley und zählte zu den angesehensten Risikokapitalanlegern am Ort. Sein Vermögen wurde auf knapp eine Milliarde Dollar geschätzt.
»Eines Tages wurde mein Vater bei Starbucks von einem Mann angesprochen.«
»Von was für einem Mann?«
»Einem Investmentbanker, der mit Vestige zu tun gehabt und Lunte gerochen hatte. Er drohte damit, Presse und Polizei zu informieren.«
»Erpressung.«
Sie nickte. »Ich konnte Starbucks noch nie leiden.«
Ich war so mit ihrem Bericht beschäftigt gewesen, dass mir die Veränderung in ihrem Verhalten zuerst gar nicht aufgefallen war. Jetzt merkte ich, wie dünn der Firnis gewesen war. Sie wirkte
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