Südbalkon
halten musste, und wich mir nicht von den Fersen. Die Küche war winzig, aber mit etwas Improvisationskunst ließen sich sogar ein Mini-Tischchen und zwei Klappstühle unterbringen. Das Wohnzimmer musste zugleich als Schlafzimmer dienen, denn einen zweiten Raum gab es nicht. Uns war das gleichgültig, schließlich waren wir noch in der allerersten Verliebtheitsphase. Wir schliefen, wo auch immer es uns passte, und wunderten uns täglich in der Früh von neuem, dass wir zu zweit aufwachten und dass es eine Zeit gab, in der es anders war. Wo sich dieses Wunder wiederholte, spielte keine Rolle.
Das Highlight hob sich der Makler für den Schluss auf. Mit einer dramatischen Geste öffnete er die Balkontür, verbeugte sich und sagte: »Nach Ihnen.« Wir traten vorsichtig auf den Balkon, so als könnte er jeden Moment abbröckeln und mit uns in die Tiefe sausen.
»Keine Sorge«, lachte der Makler und stampfte mit dem Fuß auf dem Beton auf. »Der ist für Jahrtausende gebaut.«
Wir beugten uns über die Brüstung. Unter uns die scheckigen Dächer des Bezirks. Am Himmel kreischten Krähen. Ichfühlte mich wie in einer Loge hoch über der Stadt. Raoul griff nach meiner Hand.
»Wir nehmen die Wohnung«, sagte er zu mir gewandt, und es fühlte sich an, als hielte er um meine Hand an. Eine Szene, die ich gerne hervorkrame, um sie von allen Seiten zu betrachten.
Maja sagt: »Wenn es euch nicht gutgeht miteinander, erinnere dich an den Anfang der Beziehung. Wenn’s auch da nichts Schönes gibt, woran es sich zu denken lohnt, kannst du’s gleich vergessen. Der Anfang ist das Energiereservoir.«
Ich habe viel aus diesem Reservoir geschöpft in letzter Zeit, denke ich, als ich ins Wohnschlafzimmer zurückkehre. Ich decke Raoul zu und lege mich an seine Seite.
Raoul sagt immer: Du bist meine Familie. Er hat selbst keine, zumindest keine nennenswerte. Dabei weiß ich nicht, was man zu tun hat, wenn man Familie ist für jemanden. Ich versuche, mich nicht zu ekeln und verständnisvoll zu sein. Manchmal koche ich.
Ich frage mich, ob Raouls Mutter mit seiner Wahl einverstanden wäre. Sie heißt Gertraud, wir sind einander nie begegnet. Sie lebt auf einer schwedischen Insel und träumt manchmal noch von Olympia, sagt Raoul.
Die Altbauwohnung am Hernalser Gürtel sei in seiner Kindheit erfüllt gewesen vom Abba-Sound, sagt Raoul, von dieser prallen Klangwand, die durch das mehrmalige Übereinanderlegen der Audiospuren erzeugt wurde. Wenn sein Leben verfilmt würde, liefe Abba als Hintergrundmusik. Lange Zeit habe er gedacht: Das ist Musik. Das und sonst nichts.
Wenn sie nicht Abba hörte, dann trainierte Gertraud Litzka – sie war praktizierende Leichtathletin. Einmal bei Olympiastarten, sagt Raoul, das sei immer ihr großes Ziel gewesen. Beim einzigen internationalen Wettkampf ihrer Karriere wurde sie wegen Fehlstarts disqualifiziert. Aus dieser Zeit hat sich Raoul eine Abneigung gegen Sport eingefangen, die bis heute anhält. Er verachtet alle, die Pulsuhren besitzen oder ihre Laktatwerte kennen. Gertraud ist schließlich von einem Trainingslager in Schweden nicht zurückgekehrt.
»Sie lebt noch, aber nicht für mich«, sagt Raoul.
Nachdem sie verschwunden war, lebte er alleine mit seinem Vater, der buchstäblich ein Gegengewicht zur sehnigen Mutter herzustellen versuchte und im Laufe der Zeit immer schwerer wurde. Ein Schichtarbeiter, sagt Raoul. Es handelte sich dabei um einen viel strapazierten Familienwitz: Tatsächlich war Peter Litzka Senior-Konditor in einer Meisterbäckerei und Erfinder des Gazelle-Schichtkuchens. Heute lebt er mit einer vollkommen unsportlichen Frau, die zwei Jahre jünger ist als Raoul, und zwei Kindern, die Raouls Kinder sein könnten, in einem Fertigteilhaus mit schmiedeeisernem Balkongitter und Thujenhecke.
Hin und wieder kaufe ich Gazelle-Schichtkuchen und sperre mich in die Küche ein, um den Kuchen zu betrachten, zu betasten und schließlich zu essen. Dabei höre ich »The winner takes it all« oder »The day before you came«. Ein erbärmlicher Versuch, Raouls Familie näherzukommen. Ich hoffe, dass es mir auf diese Weise leichter fällt, all diese Menschen zu ersetzen. Ein kompliziertes und kalorienreiches Experiment, das mir bislang wenig Erkenntnis bescherte. Dafür aber leichtes Übergewicht.
5
Ich habe jede Menge Putztricks auf Lager. Fliegendreck auf dem Fensterbrett entfernt man, indem man mit einer halbierten Zwiebel darüberfährt. Salzränder an Schuhen lösen sich mit einem in
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