Südbalkon
hauptsächlich um die Programmierung von Onlineshops für Schrundencreme, Multivitaminpräparate und Toilettenpapier handelte, dämpfte meine anfängliche Euphorie.
Toilette ist ein treffender Gedanke. Blick auf die Uhr: zwei Uhr dreizehn. Gut möglich, dass die Wesselys wach sind. Vom Toilettenfenster aus kann man direkt in ihr Schlafzimmer hineinsehen. Tatsächlich: Licht. Ich knie mich auf den Toilettendeckel und stelle die Klorollen beiseite, die Raoul auf dem Fensterbrett gestapelt hat. Bärenmuster, aber bloß zweilagigund vom Discounter, eine Enttäuschung. Ich öffne das hohe schmale Fenster. Die Luft schmeckt nach warmer, süßer Suppe.
Judith Wessely spaziert vor dem Schlafzimmerfenster auf und ab. Sie trägt ein geblümtes Nachthemd mit V-Ausschnitt. Phil Wessely sitzt im Unterhemd am Rand des Bettes und raucht. Die Asche lässt er in seine hohle Hand fallen. Judith Wessely gestikuliert heftig. Dann schlägt sie die Hände vors Gesicht. Phil erhebt sich, will sie am Arm packen, die Zigarette im Mundwinkel, sie reißt sich los, wütend. Sie läuft zum Fenster, ich ducke mich. Vorsichtig hebe ich wieder den Kopf. Judith Wessely keucht in den Regen hinaus. Gut möglich, dass sie weint, hin und wieder berührt sie ihre Wangen.
Phil ist im Bauch der Wohnung verschwunden. Die Wohnung der Wesselys hat dreieinhalb Zimmer und eine Frankfurter Küche. Das halbe Zimmer, eigentlich eine fensterlose Kammer, dient als Kinderzimmer. Ein Zimmer nennt Phil Wessely großspurig »Büro«. In Wahrheit ist es ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch und einem in die Jahre gekommenen Billy-Regal, in dem Betriebswirtschaftshandbücher aus den achtziger Jahren verstauben. Phil nennt sich selbst Betriebswirt, was mich immer schon amüsierte, denn ich fragte mich, was so ein Wirt denn ausschenkt.
Jetzt: das Kind. Ein langes Heulen, auf- und abschwellend wie eine Sirene. Judith rührt sich nicht. Sie nestelt an ihren Haaren, streckt dann die Arme weit von sich, schüttelt die Hand aus. Und wieder. Wühlt in ihrer langen braunen Mähne, zerrt.
Ich möchte ihr zurufen: »Lass das!« oder »Lass dir helfen!« oder »Lass dich scheiden!«, und weiß gleichzeitig, dass ich eine miserable Beraterin wäre, von einem Kind kann man sich nichtscheiden lassen, vielleicht aber ist auch bloß Phil der Störfaktor. Wie auf Kommando kehrt er in mein Blickfeld zurück, eine Bierflasche in der Hand. Fortsetzung des Sirenengeheuls. Er stellt sich hinter Judith, packt sie an den Schultern, führt sie weg vom Fenster, schließt das Fenster, zieht die Vorhänge zu, ich sehe nur noch Schatten, und dann löschen sie das Licht, und ich sehe gar nichts mehr.
Ich notiere: J.W. für Judith Wessely und unterhalb Trichotillomanie – der Zwang, sich Haare auszureißen. Unter P.W. schreibe ich: Alkohol , in Klammern Bier und Handaschenbecher .
Ich gehe zurück ins Schlafzimmer, das im Grunde keines ist. Wir schlafen auf einer ausziehbaren Couch, die als Couch gedacht war, gleich zu Beginn ausgezogen wurde und seither als Bett dient. Ein Dauerprovisorium. Sie steht in einem geschützten Wohnzimmereck, weit weg von allen Türen. Wenn schon Provisorium, dann wenigstens gute Energie, dachte ich. Ich bestehe auch darauf, dass Raoul den Toilettendeckel schließt, damit das Chi nicht im Klo runtergespült wird. Raoul sieht mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Er ist esoterischer Analphabet.
»Welches Chi?«, fragt er dann. »Das Klo ist doch dazu da, um Dinge runterzuspülen. Das ist sein Beruf.« Er grinst. Raoul sagt manchmal »Feng pfui«, um mich aufzuziehen, aber meistens sagt er nichts, denn was ihn nicht interessiert, das ignoriert er.
Als der Makler uns in diese Wohnung führte, waren Raoul und ich seit knapp drei Monaten ein Paar. Ohne Möbel erschien sie uns groß, zumindest groß genug. Raoul hatte die Annonce in der Stadtzeitung gefunden.
Entzückendes Refugium! 56 qm., wunderschöner Westbalkon, Fernwärme, 12. Stock, atemberaubender Blick über die City.
Der Makler sah aus, als wüsste er nicht, was ein Refugium ist. Er trug einen Rucksack und pries die Wohnung an wie einen Palast. Ein Anfänger, aber nicht ungeschickt: Für jeden Einwand hatte er ein Gegenargument parat. Gut aufgepasst in der Maklerschule. Die Einwände kamen in erster Linie von mir. Raoul sah sich ein einziges Mal um und meinte: »Hierher kommt mein Schreibtisch.« Alles weitere interessierte ihn nicht. Der Makler hat schnell kapiert, dass er sich an mich
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