Südbalkon
verabschiedet sich, um die Fenster ihrer Dachgeschosswohnung oder ihres Cabrios zu schließen. Irgendwas ist immer offen bei ihr.
Kurze Zeit später beginnt es zu regnen. Ich bahne mir einen Weg durch die dicken Tropfen und frage mich, was das siebte Flittchen an meiner Stelle täte.
4
Als ich aufwache, regnet es immer noch. Ich liege stocksteif im Bett. Der Regen trommelt auf den Balkonbeton. Etwas stimmt nicht mit mir. Ich betaste meinen Oberkörper. Ich schwitze am Hals und zwischen den Brüsten, mein Nachthemd ist feucht. Ich setze mich auf. Raoul schläft in Seitenlage, die Hände über dem Kopf wie ein Kleinkind. Die Decke hat er weggestrampelt. Er atmet ruhig und gleichmäßig.
Auf dem Schütte-Lihotzky-Hochhaus ist eine Leuchtreklame montiert. Levi’s Jeans die ganze Nacht. Wie am Times Square, nur ohne Manhattan. Das harte Licht der Reklame fällt durch einen schmalen Schlitz in der Jalousie und beleuchtet die Kamele auf dem Polyester-Perser.
Es riecht nach verbranntem Fleisch. Ich stehe auf und tappe auf Zehenspitzen in die Küche. Im Abwasch stapeln sich Teller und Töpfe. Ein stinkender, schiefer Turm. Obenauf die Teflonpfanne mit Pfannenwender. Raoul hat keine Geschirrspültabs gekauft, und er hat auch nicht abgewaschen. Ich kratze ein wenig Champignonsauce vom Boden der Pfanne. Von den Schnitzeln ist nur das Papier übriggeblieben. Und ein unangenehmer Druck im Magen. Ich fülle Wasser in ein Glas und gieße einen abgeblühten Weihnachtsstern. Die dunklen Hängeschränke wölben sich über die Arbeitsplatte, als wollten sie gleich aus ihrer Verankerung springen. Die Küche sieht in der Nacht bedrohlich aus, aber sie ist im Mietpreis enthalten.
Ich gehe ins Bad und ziehe im Dunkeln mein feuchtesNachthemd aus. Ich ertrage den Anblick meines nackten Körpers nicht, weil ich dann gezwungen bin, nach Krankheitsanzeichen zu fahnden. Nach veränderten Muttermalen, nach Knoten unter der Haut, geschwollenen Adern, schuppender Haut, Rötungen. Ich greife in den Schmutzwäschekorb und ziehe das erstbeste T-Shirt an. Raoul findet das nicht eklig, denn er hat eine hohe Ekelschwelle, die er auch bei sich selbst anlegt. Er schneidet sich etwa die Zehennägel, indem er den Fuß auf dem Couchtisch abstützt. Die Nagelsplitter fliegen in alle Richtungen, während er ihnen fasziniert nachschaut, wie ein Ingenieur, der den Start seiner Raumfähren beobachtet.
Die Müdigkeit hat mich verlassen. Ich könnte das Bad putzen, ich könnte das Geschirr abwaschen oder die Blätter des Gummibaums auf dem Gang mit Bier behandeln, damit sie glänzen. Ich könnte dem Regen zuhören und an nichts denken, oder ich könnte dem Regen zuhören und mir überlegen, was ich mit meinem Restleben anfange.
Ich tappe in den Flur und ziehe Herrn Othmars Broschüre aus der Tasche.
Kurse / Ausbildungen II.
Das Cover zeigt eine aggressive Blondine mit einem Ich-weiß-wo-der-Hammer-hängt-Blick. Am oberen Rand klebt das Logo der Gesellschaft für W. : Eine ungeschickt gezeichnete Hand, die in einen Kreis hineingreift, offensichtlich um eine andere Hand daraus herauszuziehen. Die Fingerspitzen berühren einander nicht, noch nicht, doch der Wille ist ersichtlich, und ein wenig erinnert das entfernt an die Erschaffung Adams. Das Logo stößt mich ab, denn ich lege es nicht drauf an, ausmeinem Kreis herausgezogen zu werden, im Gegenteil. Gerne verharre ich darin und schlage jedem wohlmeinenden Retter auf die Hand.
Die Ausbildungen sind alphabetisch geordnet, von Anlageberater bis Zahnarztassistentin. Es gibt aberwitzige Berufe: Sachverständiger für Polster, Polstermöbel und Bezüge. Das klingt bodenständig und abwechslungsreich. Der Thanatopraktiker (Einbalsamierer) sei ein Beruf mit Zukunft und trotze jeder Krise, lese ich. Eventuell ließe sich das Todesanzeigen-Praktikum anrechnen. Zum Existenz-Consultant kann man sich ebenfalls ausbilden lassen. Wohl ein ähnlicher Kurs wie jener, den Maja absolviert hat.
Ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufbrächte, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich nicht täglich umgeben. Raoul ist Aufgabe genug, das weiß Herr Othmar bloß nicht. Seit ich erwähnt habe, dass Raoul Softwaredesigner ist, glaubt er, wir lebten eine schicke Yuppie-Beziehung mit Innenstadt-Maisonette und Retriever-Mischling.
Ich hatte mir einen Softwaredesigner auch anders vorgestellt: als eine Art Architekten, der außergewöhnliche Dinge programmiert, um die schnöde virtuelle Welt zu veredeln. Dass es sich dabei
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