Südbalkon
Wohnung, und frage mich, wie um alles in der Welt es nur so weit kommen konnte.
10
Als ich aufwache, ist zunächst alles schwarz, dann schält sich eine gelbgrünlich schimmernde Scheibe aus der Finsternis. Der Neon-Wandteller meines Vaters. Achilles, der Fersenmann, tut so, als wollte er aus dem Teller springen. Bedrohlich. Dabei kann ich es mit Achilles durchaus aufnehmen. Im Gegensatz zu seiner Ferse ist meine nämlich unverwundbar. Unverwüstlich wie ein Panzer, zerklüftet wie der Bryce Canyon. Früher hatte ich Bedenken, dass meine Fersen jeden Mann abschrecken könnten. Ich badete und salbte sie ausführlich, doch sie dankten es mir nicht. Kaum einen Tag nicht gehätschelt, verwandelten sie sich über Nacht wieder in elefantöses Gewebe zurück. Schließlich beugte ich mich der Physiologie und betete zum Allmächtigen, dass er mir keinen Fußfetischisten schicken möge.
Meinem Wunsch gemäß interessiert sich Raoul nicht für meine Füße. Ihm zufolge sind einige Körperteile der Notwendigkeit geschuldet, andere der Ästhetik. Ihn faszinieren die kleinen Schwimmhäute zwischen den Fingern, der Bereich in den Ellenbeugen, wo die Adern hervortreten, der Nabel, der nach der Geburt jede Funktion eingebüßt hat.
Als ich Kind war, glaubte ich, dass der Nabel zu einer im Inneren des Körpers verborgenen Tasche führte, eine Höhle, in der man kleine Gegenstände deponieren könnte, ähnlich einem Kängurubeutel. Ich hing dieser Vorstellung noch lange nach, und als ich Raoul kennenlernte, wünschte ich mir, ich könnte seine Briefe so klein zusammenfalten, dass es gelänge,sie in der Nabeltasche mit mir herumzutragen, als Vorrat für jene Zeit, da er mir keine mehr schreiben würde.
Ziehende Schmerzen im Rücken. Ich versuche, mich im Bett zu dehnen. Es wird Zeit für ein Bett, denke ich, ein richtiges Bett mit Lattenrost und mehrschichtiger Matratze, wie man es in anderen Wohnungen auch vorfindet.
Raoul schläft wie ein Baby. Keine Ahnung, warum ich immer diejenige bin, die nicht schlafen kann, er hat doch mindestens ebenso viele Sorgen wie ich.
Nach der Verfrachtung von Maja war Raoul schweigsam. Er wirkte nachdenklich und ging auch außerhalb der Tabuzone auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Ich wusste nicht, wie ich ein Gespräch anleiern sollte, und sagte: »Ich hoffe, dass alles gut wird«, und Raoul antwortete nicht, kein Wort, nicht einmal ein Nicken. Ich wusste nicht, wofür er mich bestrafte, und fühlte mich schuldig für etwas, das außerhalb meines Einflussbereichs lag. Ich verkroch mich ins Bad, weil ich hoffte, das warme Wasser würde meine Enttäuschung lindern.
Irgendwann klopfte er und sagte: »Ruth, wir müssen reden«, in einem wehmütigen Ton, den ich von ihm nicht gewohnt war. Ich stieg aus der Wanne, schloss auf und verkroch mich wieder im warmen Wasser. Raoul lehnte sich an die Waschmaschine und betrachtete mich. Ich kreuzte automatisch die Arme vor der Brust, ich diskutiere nicht gerne, wenn ich nackt bin.
»Ich komm zu dir ins Wasser«, sagte er und zog sein Shirt über den Kopf, öffnete den Gürtel, streifte die Jeans ab und stieg aus seinen Boxershorts. Ratlos stand er vor der Wanne und sah auf mich herab.
»Rutsch rüber«, sagte er.
Ich zog die Beine an und schuf Platz für maximal eine Badeente. Vollkommen aussichtslos, Raouls 192 Zentimeter unterzubringen. Als wollte er den Naturgesetzen trotzen, setzte er einen Fuß ins Wasser, dann zog er den anderen nach. Ich kauerte mich zusammen, die Knie unter dem Kinn. Meine Oberschenkel fixierten mich an beiden Seiten der Wanne.
»Na, siehst du: Wenn man will, geht alles«, sagte Raoul und ging vorsichtig in die Hocke, die Beine gespreizt. Sein Schwanz hing im Badewasser wie ein lebensmüder Nacktmull. Keiner konnte sich mehr rühren. Beste Voraussetzungen für ein Verhör.
»Seit wann bist du eigentlich mit Maja in Kontakt, also geschäftlich?«, fragte ich und bemühte mich um Leichtigkeit in der Stimme.
»Ich wollte eigentlich etwas Wichtiges mit dir besprechen«, sagte Raoul und tätschelte mein Wadenbein. »Die Sache mit Willi. Das funktioniert nicht so, wie ich dachte.«
Stille. Willi interessierte mich keinen Deut. Raoul konnte programmieren, mit wem er wollte, das war eindeutig Ruthfreie Zone.
»Willi wollte investieren, weißt du.«
»Ja – und?«
Raoul legte seine Hand auf mein Schienbein. »Wir brauchen Geld, um das Projekt abschließen zu können. Wir sind so knapp davor.« Er legte Daumen und Zeigefinger
Weitere Kostenlose Bücher