Südbalkon
bekam eine Gänsehaut, denn dieses »Ich sehe dich« klang beinahe wie ein »Ich liebe dich«.
»Ich darf sie nicht verlieren«, jammert Maja, ihr schönes Gesicht ist verschoben vor Verzweiflung, und ich denke nur: Ja, auch ich will dich nicht verlieren. Vorsichtig tastend schieben wir uns auf Knien in Zeitlupe vom Sofa zum Couchtisch und wieder zurück.
Wie ihre Kontaktlinse aussehe, frage ich, ob sie durchsichtig sei, und sie sagt, nein, die Linse sei blau getönt, hellblau, auf weißem Untergrund könne man sie gut erkennen. Der Laminatboden hier sei allerdings ein Hindernis, weil er so unruhig gemasert sei, und ich sehe meinen Boden mit einem Mal mit neuen Augen, denn eine Maserung ist mir noch nie aufgefallen, schon gar keine unruhige.
Ich sage Sprüche wie: »Mach dir keine Sorgen, wir finden sie bestimmt« und » Ich spüre, dass wir sie gleich haben « , obwohl ich gar nichts spüre, nur meine Knie, die auf dem Boden scheuern, und ich wünsche mich zurück in mein Badezimmer zu den blauen Fliesen mit ihrer ruhigen Oberfläche, ein in der Bewegung erstarrtes Meer.
Plötzlich schließt jemand die Tür auf, es ist Raoul, wer sonst, und schon steht er im Wohnzimmer, und kühle Luft weht herein.
»Keinen Schritt weiter!«, ruft Maja, und Raoul erstarrt an der Schwelle.
»Hast du nicht etwas vergessen?«, frage ich ihn, und er sieht von Maja zu mir und wieder zu Maja und sagt: »Was ist hier los?«
In seinem Gesicht kann ich eine dreifache Fassungslosigkeiterkennen. Dass Maja hier ist – bestimmt hat er die Nachricht auf seinem Handy noch nicht gelesen –, dass er unvorbereitet mitansehen muss, wie zwei schlecht gelaunte Frauen auf dem Boden herumkriechen. Und dass er am Betreten seiner eigenen Wohnung gehindert wird.
Ich stehe auf und bemühe mich, nur auf bereits untersuchtes Terrain zu treten. »Wir müssen systematisch vorgehen«, sage ich zu Maja. »Es wird am besten sein, wir kennzeichnen die Stellen, an denen wir schon gesucht haben. Und wir markieren die Grenzen, innerhalb derer wir überhaupt suchen. Wie weit springt eine Kontaktlinse?«
Maja antwortet nicht, sie seufzt nur.
»Sie hat ihr Augenlicht verloren«, sage ich zu Raoul.
Er schiebt sich an der Wand entlang und an uns vorbei in die Küche. Ich höre, wie er die Kaffeemaschine anwirft, und folge ihm.
»Könnt ihr nicht woanders spielen?«, zischt er. »Ich habe zu arbeiten.«
»Sie ist doch wegen dir hier!«, sage ich. »Hast du deine Termine nicht im Griff?«
»Das kann nicht sein«, gibt er zurück. »Unser Termin ist morgen.«
Als Beweis hält er mir das Display seines Handys vor die Nase, aber ich kann nur die Uhrzeit lesen. Vierzehn Uhr fünfundvierzig.
»Wir haben auf dich gewartet«, sage ich. Betonung auf wir .
Schon läuft er aus der Küche, und ich höre ihn zu Maja sagen: »Mach dir keine Sorgen, Maja.«
Ich höre, wie sie Möbel verrücken, es quietscht, etwas schleift auf dem Boden. Ich verberge mich hinter der Küchentür,um ihre Worte zu belauschen, doch sie sprechen nicht. Die Neugier zwingt mich dazu, mein Versteck zu verlassen. Maja und Raoul haben mit den Möbeln einen Absperrring gebildet.
»Da drin muss sie sein«, sagt Maja und deutet in den Ring.
»Es ist höchst wahrscheinlich, dass wir sie hier drin finden«, sagt Raoul.
»Es sei denn, sie hat sich an unsere Kleider geheftet, aber das glaube ich nicht«, sagt Maja.
»Das glaube ich auch nicht.« Raouls Stimme ist jetzt mild und weich, vielleicht liege ich ja richtig, vielleicht ist alles ein abgekartetes Spiel, um Maja als bemitleidenswerte Figur in unserem Leben zu positionieren, als eine, um die Mann sich kümmern muss.
»Wir werden da nicht hineintreten«, sagt Raoul zu mir und deutet in die Mitte des Möbelkreises. Er ist gerade erst zur Tür hereingekommen und bestimmt bereits, was getan werden darf und was nicht.
Wenig später ist das Taxi da. Raoul kehrt verborgene Gentleman-Qualitäten hervor und bietet Maja wie selbstverständlich seinen Arm an. Maja klammert sich daran fest, einen gut geübten Ausdruck des Leidens im Gesicht. Ihr selbstbewusster Bob sitzt wie eine verrutschte Krone auf ihrem Kopf.
Während der Liftfahrt wird ihr Raoul beruhigende Worte zuflüstern, vielleicht wird er seinen Arm um ihre Schultern legen, und nachdem er die Wagentüre für sie geöffnet hat, wird er sie auf die Wange küssen.
Ich bleibe zurück, betrachte die eingezäunte Tabuzone, die beinahe die Hälfte des Raumes einnimmt, ein Sperrgebiet mitten in der
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