Südbalkon
Dienst.«
Hatte er nicht heute frei? So nahe ich ihm gerade noch im Küchenstudio war, so fremd ist er mir plötzlich an der frischen Luft. Ich bemühe mich, meine Enttäuschung hinunterzuschlucken. Er geht, ohne mich zu küssen, hebt nur kurz die Hand. Die kalte Verabschiedung drückt mich zu Boden, rund um mich ist es dunkel, und ich frage mich, wo er bleibt, mein Engel, mein Beleuchtungs-Engel, weshalb leuchtet er mir nicht.
19
Ich will weg, einfach nur fort, Sachen packen, Rucksack auf die zerschlissene Rückbank des alten Mercedes werfen. Das habe ich in einem Film gesehen, auf der Leinwand war das ganz simpel. Im richtigen Leben aber ist es unmöglich, zumindest in meinem, denn ich habe keinen Mercedes mit zerschlissener Rückbank, wir fahren einen alten Toyota, an dem alles zerschlissen ist bis auf die Rückbank, und wenn ich wir sage, meine ich Raoul.
Ich wüsste auch gar nicht, wohin mit mir, im Kino fahren sie durch die Wüste oder zumindest durch eine Steppe. Wo Wien ausfranst, gibt es nur das Marchfeld mit seinem Spargel oder hässliche Wassertürme in einer Mondlandschaft. Landstriche, in denen ich weder leben noch sterben möchte.
Was ich jetzt brauche, ist eine Überdosis fremdes Unglück. Weshalb gibt es das nicht auf Rezept? Herr Doktor, bitte schreiben Sie auf: ein Nervenzusammenbruch wegen Insolvenz, ein Ehefiasko auf offener Straße, vererbte Adipositas; dicke Mutter mit zwei dicken Töchtern, Beine wie antike Säulen, keiner, der freiwillig dazwischen fasst, nicht einmal sie selbst.
Das Rigoletto ist ein guter Ort für Beobachtungen. Ich trete ein, zwänge mich zwischen zwei Miniaturtischen hindurch. Ein Café für Hobbits, man sitzt quasi aufeinander, auf Sesselchen und Bänken, die mit einer quietschrosa Couverture bezogen sind.
Ich studiere die rosa Karte, es gibt Malakofftorte und Sachertorte, ich brauche etwas stark Gezuckertes, um den Geschmack der Enttäuschung zu übertünchen. In der Schule mussten wir einen Aufsatz schreiben über Wiener Mehlspeisen, Frau Professor Pollak war ein Feinspitz, sie hielt viel auf Tradition, und ich löschte mit dem Tintentod alle »r« heraus, bis nur noch Malakofftote und Topfentote übrig blieben. Der Aufsatz war gepflastert mit Mehlspeiseleichen.
Eine Rigoletto-Stewardess im rosa Outfit putzt die Tischchen mit Clin streifenfrei. Ich sehe ihr dabei zu, für ein Tischchen benötigt sie keine zwei Sekunden, der scharfe Putzmittelgeruch steigt mir in die Nase. Ich bestelle Apfelstrudel mit Vanillesauce. Für einen Kaffee reicht das Geld nicht, ein Glas Leitungswasser muss genügen, die Kellnerin schreibt es gelassen auf ihren Block.
Das Café ist mit Spiegeln ausstaffiert, überall begegnet man seinem eigenen Antlitz. Alle Frauen hier tragen Hüte, die mit ihren bläulichen Dauerwellen verwachsen zu sein scheinen. Sie nehmen die Hüte nie ab, wahrscheinlich nicht einmal im Bett, aus Angst, ihre Frisur könnte zerstört werden. Wenn man sich unbedacht umdreht, stechen einem die Hutspitzen ins Auge. Ich verstehe jedes einzelne Wort, das sie sprechen, so nah ist man sich hier. Sie berichten über die neuen Methoden der Varizen-Operation. Mit Hitze funktioniert das, die Krampfadern werden gewissermaßen verschmolzen, eingeschmolzen, man braucht sie nicht herauszuziehen, sie verkümmern im Körper, wie praktisch.
Nach der Gefäß-Konferenz beschwert sich jene mit der Taubenfeder an ihrem Hut über ihren Schwiegersohn. »Der Markus«, sagt sie immer. Der Markus wolle Malerei studieren, jetzt,mit 35, was für eine Schnapsidee, und die anderen Gefiederten schütteln den Kopf, was für eine Schnapsidee! Was er denn male, fragt eine, und die Taubenfederfrau sagt: Berge, der Markus male Berge, nur Berge, Felsen, Bergspitzen. Dabei gebe es doch in Österreich schon einen Bergmaler, den Brandl, da würde der Markus doch immer am Brandl gemessen werden und hätte zwangsläufig keine Chance, weil der Brandl sich doch bereits international einen Namen gemacht habe, der Markus aber bis jetzt lediglich als Installateur bekannt sei, und das nur in Simmering. Auch kenne der Markus die wenigsten Berge persönlich, die meisten habe er im GEO gesehen. Die Luise rede ihm ohnehin Tag und Nacht zu, er solle den Betrieb ja nicht aufgeben, die Kinder seien doch noch klein, der Markus aber sagte, sie solle sich nicht anstellen, mit der Malerei sei eine Menge zu verdienen, er tue gerade so, als hänge er bereits im Kunsthistorischen Museum.
Die Kellnerin bringt den Strudel,
Weitere Kostenlose Bücher