Südbalkon
Pendeln zwischen Überdruss und Unterversorgung?
»Viel Platz ist hier nicht«, seufzt die Frau und geht an mir vorbei zum Waschbecken.
»Passen Sie auf mit dem Wasser«, sage ich.
Sie lacht. »Ich kenne mich hier aus.«
Für einen Moment tauchen unsere beiden Gesichter in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken auf: ihre gepflegte Erscheinung, ein kleines, geschminktes Gesicht. Als sie den Blick senkt, sehe ich den farblich passenden Lidschatten auf ihren Lidern. Ich erkenne sie an der Narbe, die sich von der Schläfe über die Wange zieht. Corinna Neubusch.
Ich erinnere mich deshalb so gut, weil Neubusch der letzte Name war, den ich während meines Langzeitpraktikums in den Computer tippte.
Die Tote hieß Sylvie Neubusch. Eine Jugendliche, sechzehn Jahre alt. Sie wurde auf dem Meer vom Blitz getroffen. Das ist lange her. Corinna wurde drei Jahre später geboren, und die Eltern sorgten auf ihre Weise dafür, dass Sylvie nicht in Vergessenheit geriet. Egal, was Corinna tat: Sylvie hatte in den Augen der Eltern alles besser tun können, sie war hübscher, talentierter und vielversprechender gewesen als Corinna, die nur ein müder Abklatsch war, ein Schatten der toten Schwester, eine Nachgeburt.
Corinna Neubusch erzählte mit großer Offenheit von demverzweifelten Hass auf ihre Schwester. Bis sie begriff – zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon eigene Kinder –, dass es der Hass war, der sie für immer an ihre Schwester ketten würde. An diesem Tag beschloss sie, ihre Schwester zu lieben.
Nun war sie es, die Sylvies Andenken hochhielt – auf ihre ganz spezielle Weise: Jedes Jahr an Sylvies Todestag gab sie eine Anzeige in der Zeitung auf. Sie überlegte genau, was ihrer Schwester gefallen hätte. Sie forschte nach, welche Musik Sylvie gerne gehört, was sie gelesen hatte, welche Kinofilme sie mochte, wie sie sich in der Schule gemacht hatte, kurz: Sie lernte ihre Schwester kennen, die auf diese Weise vom Himmel herabstieg und zu einem Menschen aus Fleisch und Blut wurde.
»Diese Todesanzeigen«, sagte Corinna Neubusch damals, »erlösten mich.« So kam es, dass ich mein Praktikum als Retterin beendete, nicht als Todesbotin.
Corinna Neubusch trocknet ihre Hände ab, lächelt mir zu. Sie hat mich nicht erkannt. Ich lächle ebenfalls. Als sie geht, hält sie mir die Tür auf, ich gehe ihr automatisch nach, und als ich mich durch die Tischreihen zwänge, bemerke ich, dass ich mit ungewaschenen Händen an meinen Tisch zurückkehre.
20
Die Wohnung hat sich tagsüber aufgeheizt, die Luft ist verbraucht, mir wird übel, als ich den Fuß über die Schwelle setze. Das Bruno-Kreisky-Hochhaus ist schlecht isoliert. Sobald ein paar Sonnenstrahlen den Weg in die Wohnung finden, köchelt das gesamte Mobiliar vor sich hin: Das Sofa, Raouls Schreibtisch, das Bett, jeder einzelne Gegenstand atmet schlechte Luft ein und aus, sogar die Farben verblassen, und das Foto von Raoul und mir und dem Berg wirkt plötzlich, als stamme es aus einer anderen Epoche. Der Stoffwechsel in der Wohnung stockt. In den Ausbuchtungen, wo sich Schlacken angesammelt haben, ist es noch wärmer als im Rest der Wohnung.
Maja sagt, man müsse in den Ecken klatschen, um die Energie zu aktivieren. Sie sagt auch: Ziehe nie in eine Wohnung, in der jemand unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Niemals in eine Wohnung, in der es wüsten Streit gab. Immer die Nachbarn vorher befragen. Niemals in eine Wohnung, in der Vormieter pleite gegangen sind. Alles lebt in den Wänden fort, sagt Maja, und strahlt nach und nach auf die neuen Bewohner ab, da könne man machen, was man wolle. Ob man an diesen Vorgang glaube oder nicht, spiele überhaupt keine Rolle.
In der Ecke des Wohnzimmers, zwischen Bett und Anrichte, befindet sich ein ungenütztes Eck, das ich nur über das Bett erreichen kann. Der blinde Fleck der Wohnung. Ich klettere über Decken und Kissen, mit Müh und Not kann ich in derEcke aufrecht stehen. Wenn ich den Kopf ein wenig beuge, so als würde ich nicken, stoße ich mit der Stirn an die Wand. Tatsächlich fühlt sich die Luft hier noch unbewegter an, ein vernachlässigter Ort, wenn nicht der am meisten vernachlässigte überhaupt. Ich klatsche in die Hände. Ein dumpfer Ton, meine Handflächen brennen sofort. Ich berühre die Wand mit der Stirn. Die Kante des Bettes drückt in meine Kniekehlen.
»Pawel«, sage ich und lausche meiner eigenen Stimme.
Pawel. Pawel. Wie oft werde ich den Namen in meinem Leben noch aussprechen? Ich schmiege
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