Südbalkon
eineKrankenschwester, die in den Innereien eines Patienten wühlt. Die Rückwand des Schranks ist tatsächlich kühl, was hat er erwartet? Ich beobachte mich dabei, wie ich einen Unfug nach dem anderen nachmache, und dann sehe ich den Mann an, der das provoziert: helles, kurzes Haar, ein Durchschnittsgesicht, dessen Abweichungen nicht scharf genug herausgemeißelt sind, sein Kinn bloß ein wenig zu spitz, die Augen nur ein wenig zu nah beieinander, farblose Brauen über wässrigblauen Augen. Dennoch zieht er mich an, und für einen Augenblick überlege ich, wie es wäre, meinen Finger an seine blassen Lippen zu legen statt an den Unterschrank. Es ist mir bewusst, dass ich mit diesen Gedanken eine Schleuse öffne, denn er sieht mich plötzlich an, als begreife auch er, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sich unsere Lippen finden.
Doch anstatt mich zu berühren, öffnet er eine schmale Schublade, deren Innenraum bereits für das Besteck vorgestanzt ist. Eine Einbuchtung für Löffel, eine für Gabeln, eine für Messer, eine kleine für Dessertgabeln, die kleinste für Mokkalöffel.
Vorsichtig fährt Pawel über den Rand der schmalsten Einbuchtung.
»Das ist es«, sagt er. Seine Hand zittert. »Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst«, sagt er, »aber du hast mich an den richtigen Ort gebracht.« Er legt Zeige- und Mittelfinger in die Mokkalöffelkuhle und sagt: »Wunderbar, hier kann ich rasten.« Dann greift er nach meiner Hand und legt meinen Zeigefinger zu seinem Zeigefinger, zwei Finger im Mokkalöffelbett, die einander näher nicht sein könnten, und flüstert: »Ich habe dich gesehen. Im Kaminsky-Park. Hinter dem Denkmal, immer wieder. Und im Krankenhaus sofort wiedererkannt. Ich habdich gesehen und gedacht: Lass sie nicht krank sein. Bitte nicht. Lass sie einfach nur erschöpft sein. Und dann bist du aufgewacht. Meine Bitte wurde erhört.« Er lacht leise.
Er hatte mich die ganze Zeit beobachtet. Erschrocken ziehe ich die Hand aus der Besteckschublade.
»Deine Haut«, sagt er, »ist so weich wie in meiner Vorstellung. Ich habe dich oft berührt, öfter, als du ahnst.« Pawels Lippen dicht an meinem Ohr.
»Und ich hab alles notiert«, sagt er. »Ich schreibe auf, was mich berührt. Wie sich dieser Schrank anfühlt, die Besteckschublade, dein Zeigefinger, das notiere ich alles in einem Heft.«
Und da ist es, ganz ohne Vorankündigung: das Erkennen. Er ist wie ich. Ich bin wie er. Ich will es ihm sagen, doch ich bin unfähig zu sprechen, und in diesem Augenblick betritt die drahtige Verkäuferin den Raum.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie in geschultem Küchenstudioberaterinnen-Tonfall. Sie fragt nicht, ob , sondern wie sie uns helfen kann, erwartet offenkundig eine Antwort.
Über dem Induktionsherd schwebt ein Beleuchtungs-Ufo mit Lamellen, die kleinen Flügeln ähneln. Ich deute darauf und frage: »Wozu sind die gut?«
»Das ist nicht nur Beleuchtung, das ist natürlich auch Dunstabzug«, sagt sie. »Natürlich«, murmle ich.
»Aerodynamische Formensprache, wie Sie sehen.«
In ihrer Stimme schwingt Stolz mit, so als hätte sie das Ding entworfen und eigenhändig zusammengeschraubt.
»Ich werde noch einmal darüber schlafen«, sage ich.
»Und was sagt der Herr Gemahl dazu?«, fragt die Verkäuferin.
»Kein Gemahl«, sage ich schnell, und Pawel sagt: »Ich bin Pfleger an der Magenbuch-Klink«, so als erkläre das alles.
»Aha«, sagt sie, und hinter ihrer Stirn drehen sich gut sichtbar kleine Rädchen. Ihr Missoni-Kleid ist so eng, dass sich ihre Hüftknochen abzeichnen, ich glaube sogar die Wölbung ihres Nabels zu erkennen.
»Darf ich Ihnen die Produktbeschreibung mitgeben?« Sie öffnet eine der Schubladen. Die Dunstabzugshaube mit den Flügellamellen heißt Lightening Angel . Sie überreicht mir einen Prospekt. Dann deutet sie auf die Tür. »Ich begleite Sie nach vorn«, sagt sie.
Ich wusste es: Sie wirft uns hinaus. Höflich, aber sie tut es.
Pawel greift wie selbstverständlich nach meiner Hand.
Im vorderen Verkaufsraum stehen mehrere Pärchen um eine Kücheninsel. Sie trinken aus langstieligen Gläsern und verstummen, als wir vorbeigehen.
»Danke für Ihren Besuch.« Aufgemaltes Lächeln. Schon stehen wir auf der Straße.
Du bist so wie ich, will ich zu Pawel sagen. Ich bin wie du. Seltsam wie du. Noch bevor ich den Mund öffnen kann, sieht Pawel auf seine Armbanduhr und sagt: »Es ist schon spät.« Der sinnloseste Satz der Welt. Und dann: »Ich muss in den
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