Südbalkon
meine Wange an die Wand. Warme Lippen auf meinem Mundwinkel. Zuerst kleine Küsse, wie zerhackt, dann ein langer leidenschaftlicher Kuss, Lippen auf Lippen wie zwei Seiten eines Buches, die sich perfekt übereinanderlegen. Ich spüre, dass ich erröte, dass mein Herz schneller schlägt, obwohl hier niemand ist, der mich in Verlegenheit bringen kann. Die Wand umfängt mich wie eine Schwester, sie stützt mich, nennt mich bei meinem Namen. Die Wand sagt: Ruth, Ruth, Ruth, mit einem langen »u«, sie beruhigt mich, wie es meine Mutter nie getan hat, meine Mutter, die mir ihre geglättete Stirn zur Begutachtung hinhält, sie fühlt sich kühl an und gespannt wie die Lederhaut über einer Trommel.
In meinem Bauch ist es warm, der Apfelstrudel dreht seine Runden, und wieder fühle ich ein Echo von Pawels Berührungen, beides schmeckt süß und verboten, und ich frage mich, ob sich auf diese Weise eine neue Liebe ankündigt.
In meiner Vorstellung projiziere ich beide Männer auf die weiße Wand, Raoul, hoch und schmal, Dreitagebart und Tausendtagefrisur wie ein französischer Yuppie-Schriftsteller, der beim Koksen erwischt wurde. Daneben Pawel, fast noch einKind, mit seiner hellen Haut, seinem traurigen Lächeln und seinen hungrigen Händen. Da fällt die Wahl schwer, die meisten würden sich wohl für keinen der beiden entscheiden oder zur Sicherheit für jenen, der die längere Zeit schon da war, wegen der erworbenen Schürfrechte und wegen des Alltags, den man sich gemeinsam zurechtgemeißelt hat.
Als die Beziehung zu Raoul noch frisch war, beobachtete ich andere Frauen auf der Straße. Nicht, um zu kontrollieren, ob Raoul ihnen nachsah, sondern um zu prüfen, ob sie ihn ansahen. Es war das Aufflackern des spontanen Interesses, nach dem ich fahndete und an dem ich nicht nur Raouls Marktwert, sondern auch meinen eigenen maß. Seit die Blicke der Frauen ihn nur noch streiften und nicht mehr hängenblieben, machte ich mir mehr Sorgen um mich als um ihn, denn was bedeutet es, mit einem Mann zusammenzuleben, der in den Augen der anderen Frauen keinen zweiten Blick wert war? Weshalb muss es immer so kommen mit den Geschenken, die dir das Leben macht: Sobald du sie fertig ausgepackt und von allen Seiten bewundert hast, beginnt der Zersetzungsprozess.
Als Maja anruft, will ich zunächst nicht abheben. Doch vielleicht kommt jetzt alles heraus, und ich erfahre, ob ich nun keine Freundin mehr habe und keinen Freund, ob mir gleich zwei Menschen mit einem Schlag abhandenkommen. Gut möglich, dass sie ein Geständnis ablegen möchte, und um ihr zuvorzukommen, sage ich ohne Umschweife: »Ich glaube, ich habe Raoul auch betrogen«, und hoffe, dass sie dieses auch aufnimmt und es endlich zugibt: Ja, Ruth, ja, es tut mir leid, ich wollte es ja nicht, aber.
Maja sagt zunächst gar nichts, so kenn ich sie gar nicht, ich höre sie nur tief atmen, und endlich sagt sie: »Soll ich dir jetztgratulieren oder dich bedauern?« Und dann lacht sie laut auf, und ich lache sicherheitshalber mit.
»Sag schon, wer ist es?«
»Kennst du nicht.«
»Details, ich will Details hören!«
»Unwichtig.«
»Hattet ihr Sex?«
»Natürlich nicht!«
»Natürlich?« Maja lacht.
Ich höre das Klacken des Feuerzeuges, dann ein tiefes Einatmen.
Ich warte auf Majas erlösende Worte, als sie sagt: »Übrigens: Ich hab mich von Georg losgesagt, ich werde ihn verlassen«, und jetzt ist alles klar. Maja würde Georg niemals freiwillig verlassen, denn er hat das Geld, ihm gehört das Haus, ohne ihn kann sich Maja das Leben, das sie sich ausgemalt hat, vergessen. Georg ist der Schlüssel zu all jenen Dingen, die ihr wichtig sind.
»Hast du einen anderen?«, frage ich flüsternd, »du kannst es mir sagen, mir kannst du es doch sagen.«
»Ja«, sagt Maja. Ich sehe sie, wie sie den Rauch in Kringeln aus ihrem Mund bläst.
»Und Georg ist draufgekommen.«
»Ja, und das ist auch gut so. Ich brauche mehr Aufregung«, sagt Maja, »Felsspalten, reißende Wildbäche, so was. Mit Georg zusammen gehe ich nur immer wieder denselben Seniorenwanderweg auf und ab.«
Ich halte den Mund, obwohl ich sehr wohl etwas zu sagen hätte. In einer Felsspalte wäre Maja doch die erste, die nach dem Rettungshubschrauber ruft, was bringt Menschen bloßdazu, ihre mentale Grundausstattung dermaßen zu überschätzen?
»Ich habe mit Raoul gesprochen«, sagt sie, »das hat mir die Augen geöffnet. Ruth, ich muss dir etwas sagen.«
Jetzt ist es soweit.
Und schon platzt die Schale, faule
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