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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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als sei sie blind. »Sehr gut, Frau Rochen«, sagt die Krankenschwester nach jedem ihrer Schritte. Frau Rochen. Ein beeindruckender Name für eine Person, die bereits in den Schrumpfungsprozess eingetreten ist.
    Dann kommen mir zwei entgegen, eine Frau und ein Mann im Papageienmorgenmantel, und es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ich verstehe. Raoul. Und Judith. Obwohl sie einen halben Kopf kleiner ist als er, bemüht er sich in einergrotesken Verrenkung, seinen Schädel auf ihre Schulter zu legen, im Gesicht ein debiles Lächeln. Judiths Gesichtsausdruck sagt: Ich tröste dich und schenke dir Hoffnung. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr, ihre Köpfe stecken zusammen, viel zu nah. Wenn sie nur einmal geradeaus sehen, müssen sie mich entdecken. Ich will mich auflösen, verschwinden, doch ich kann mich nicht rühren. Panik. Rechts eine Tür. Ich schlüpfe in eine vollkommene Dunkelheit und schließe die Tür hinter mir, dann lausche ich meinem Atem und dem Herzschlag und den gedämpften Schritten, die langsam verklingen.
    Das ist sie also, die Frau, von der die Kranke mit der Turmfrisur berichtet hat. Alles fügt sich zu einem Bild, das mir ganz und gar nicht gefällt. Unter diesen Vorzeichen verstehe ich Judiths plötzlichen Freundschaftsabbruch, ihren Rückzug, ihre ständigen Konflikte mit Phil. Und der Junge? Vielleicht ist ja das Kind auch von Raoul, nicht auszudenken.
    Mit ist übel. Wenn die Wand durchlässig wäre, dann könnte ich meinen Arm ausstrecken und Raoul an der Schulter fassen und ihn schütteln. Oder ich könnte mich auf seiner anderen Seite einhängen, um ein Gleichgewicht des Schreckens herzustellen, und ihn fragen, was er sich dabei denkt. Was denkst du dir dabei, Raoul? Was hast du dir die letzten Jahre gedacht? Wer bin ich für dich? Was bin ich für dich? Und Judith, warst du nicht meine Freundin? Die zweifache Enttäuschung wiegt schwer, und ich weiß nicht, wessen Verrat mich mehr verletzt.
    Ich taste nach der Türklinke, doch da ist nur ein Knauf, und zu meinem Erschrecken lässt er sich nicht drehen. Was bedeutet das, frage ich mich wie eine Schwachsinnige. Ich brauche einen Moment, um die Tragweite meiner Lage zu erfassen. Das bedeutet, dass du eingeschlossen bist, du Esel. Eingeschlossenin ein stockfinsteres Loch im Bauch der Magenbuch-Klinik, während draußen auf dem Gang jener Mann, mit dem du zusammenlebst, seinen Kopf auf die Schulter deiner Freundin legt. Hast du dir seinen Gesichtsausdruck eingeprägt? Er hat friedlich ausgesehen, so friedlich, wie du ihn lange nicht mehr erlebt hast, ganz entspannt wirkte er, obwohl er sich verbiegen musste, um Judiths Schulter zu erreichen. Wann hat er sich je so verbogen, um dir nahe zu sein? Vielleicht ist es ja auch der Ort, der alle verbiegt, dieses Krankenhaus mit seiner scheinheiligen Aura, die krank macht, nicht gesund.
    Ich ertaste einen Lichtschalter. Neonröhren flackern auf. Ich sehe mich um. Ein kahler fensterloser Raum mit Etageren bis an die Decke. Auf den Regalen sind Arztkittel gestapelt. Die Neonröhren summen. Ich schreite die Reihen ab, es sind Mäntel in allen Konfektionsgrößen, in militärischer Strenge angeordnet, rechts für Damen, links für Herren, Kante auf Kante, gebügelt und gestärkt, dahinter Kasacks für die Krankenschwestern in Hellblau und Grün. Auf Schildern sind die Details der Ausstattung vermerkt: halbarm / kurzarm / Labormantel / mit Brusttasche / ohne Brusttasche . Im fahlen Neonlicht wirken die Mäntel leblos und kalt. Kleiderleichen, vorbereitet für die Prosektur.
    Im Fond der Kammer kauere ich mich in ein Eck. Die Mantelmauer beschützt mich. Endlich weinen, denn da ist niemand, der mich hören kann. Ich lege meinen Kopf auf die Knie und warte auf die Tränen, doch sie kommen nicht, sogar sie haben mich verlassen. Ich bemühe mich, eine melancholische Stimmung aufzurufen. Damals, als es noch hieß: Wir beide gegen den Rest der Welt, trug Raoul die Haare halblang und sein Herz auf der Zunge. Wir benannten Sternbilder nach unserenKosenamen: die große Schneckenhexe, die kleine Kaulquappe, der große Stieglitz. In seinen Armen war ich zu Hause, und wenn er einmal nicht da war, öffnete ich seinen Schrank, um an seinen Shirts zu riechen. Ich war das Fräulein Amsel , das Amselchen . Es war die Zeit, in der uns die Przewalskistraßenwohnung unendlich groß erschien. Wir wandelten zwischen den spärlichen Möbeln umher wie Vögel auf der Suche nach einem Nistplatz.
    Hätte ich eine Nabeltasche,

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