Südbalkon
Mittelgang.
Ich höre, wie er sagt: »Es ist eine Frau. Sie hat sich versehentlich eingeschlossen.«
»Warum hat sie nichts gesagt?«, kreischt die Frau. »Frag sie das! Frag sie, warum sie sich nicht bemerkbar gemacht hat!«
Wieder kommt er um die Ecke getrottet, runder Rücken, scharfe Falten um den Mund.
»Warum haben Sie nichts gesagt?«
»Ich wollte ja«, sage ich. »Aber dann war es plötzlich zu spät.« Ich lasse den Ananasbissen in die Brusttasche des Arztkittels gleiten und halte ihm die Konserve mit dem Ananassaft hin.
Er winkt ab.
»Da ist ein Summer, neben der Tür«, sagt er. »Sie arbeiten nicht hier?«
Ich schüttle den Kopf.
»Karl!«, ruft die Frau.
Als er zum letzten Mal um die Ecke der Etagere biegt, trägt er bereits eine weiße Hose.
»Kommen Sie mit raus?«
»Danke«, sage ich. »Ich bleibe.«
Sie schließen die Tür, ganz behutsam.
Das Paar hat Unruhe hinterlassen und etwas Kleines, Glänzendes zwischen der Frauen- und der Männermantelabteilung.
22
Das Päckchen liegt auf dem Fußabstreifer. Ich hebe es auf und suche nach einem Kärtchen, nach einem Beweis, dass es nicht für mich ist, denn ich erwarte nichts, am wenigsten ein Geschenk. Doch da ist kein Kärtchen, keine Aufschrift, nichts, was auf den Absender hindeutet, unter der Bastschnur leuchtet Weihnachtspapier hervor, rote Glocken, silberne Engel mit Trompeten.
Ich streife die Schnur herunter und reiße das Papier auf. Ein Taschenbuch. Der Königsweg zum Lebensglück von Anton Pschill. Auf einem runden Aufkleber steht BESTSELLER in goldenen Lettern. Eine Frau in einem gebatikten Kleid wirft gelbe Blütenblätter über ihren Kopf. Sie reißt dabei den Mund auf und entblößt zwei Reihen schneeweißer Zähne. Ich bin noch nie im Blütenregen gestanden und bezweifle, dass ich mich danach glücklicher fühlen würde.
Auf der ersten Seite finde ich die Widmung, schräg über die Seite geschrieben und mit Blümchen verziert wie das Poesiealbum eines Volksschülers.
Liebe Küchenfee,
ich wünsche mir, dass Du das liest.
Du bist eine bemerkenswerte Frau.
Pawel
Die Küchenfee stört mich, aber der Rest versöhnt mich wieder, und eine warme Hoffnungswelle trägt mich mit sich fort.Wie schön, wie schön, das Buch wirkt bereits, dabei habe ich doch noch keine einzige Seite gelesen.
Die Welle zerschellt an einem Felsen. Bemerkenswert – ist das jetzt gut oder schlecht? Ich kann jemanden für bemerkenswert erachten und ihn trotzdem nicht mögen. Oder nur so, wie man einen guten Freund schätzt. Und wieso geht Pawel automatisch davon aus, dass mir geholfen werden muss? Dass ich eine Suchende bin, noch dazu nach so etwas wie Lebensglück? Schon die schiefe Wortverbindung verursacht mir Übelkeit, ein großes Wort, mit eisernen Scharnieren befestigt an ein noch größeres Wort, ich möchte nicht wissen, wie viel Unglück diese Koppelung schon erzeugt hat.
Ich blättere weiter zum Inhaltsverzeichnis.
Kapitel 1: Hofieren Sie Ihre Unzufriedenheit!
Kapitel 2: Fragen Sie Ihren Schutzengel, was er mit Ihnen vorhat.
Kapitel 3: Füttern Sie den Tiger in Ihnen.
Ich betrachte die Haut an meinen Armen, die Brust, die immer tiefer sinkt, den Ring um die Mitte. Wenn da ein Tiger wohnt, dann hat er sich gut versteckt. Ich erinnere mich an eine Dokumentation über den Tigertempel in Thailand, die ich gemeinsam mit Johannes angesehen hatte. Wir lagen auf der Babydecke ineinander verkeilt, über unseren Köpfen flimmerte der Fernseher. Tiger, Tempel, Thailand – eine Kombination, die mich von der ersten Minute an fesselte. Man sah den Mönchen zu, die gemeinsam mit ihren Tigern spazieren gingen. Tiere und Mönche sahen einander verdammt ähnlich, so wie sich Hunde und Herrchen mit der Zeit einander angleichen. Johannes versuchte, mich zu küssen, und nahm meinenKopf in die Hände, und ich wehrte mich, jetzt durfte er mich nicht stören.
Die Mönche spazierten mit ihren Tigern durch das Unterholz, die Tiere blieben immer in ihrer Nähe. Jeden Nachmittag wurden die Tiger in eine Schlucht gebracht, wo sie auf Touristen trafen. Jeder Tourist durfte einmal einen Tiger streicheln, davon wurde ein Foto gemacht.
Johannes schimpfte. Das sei unnatürlich, sagte er, Tiger seien Raub- und keine Schoßtiere.
Damit sich die Tiger, die auf ihren Auftritt warteten, nicht langweilten, durften sie an den Fingern der Mönche knabbern. Die Tiger waren nicht angebunden, kein einziger Mönch trug eine Waffe. Dennoch hatte es noch keinen einzigen
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