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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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wäre dies der ideale Moment, um Raouls Briefe hervorzuholen und ein letztes Mal zu lesen, bevor sie im Krematorium verbrannt würden. »Ich vermisste Dich schon, bevor ich Dich kannte«, hatte er geschrieben. Und dass er diese Beziehung »auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit« gründen wolle. Das waren seine Worte.
    Nicht einmal diese Erinnerung wirkt, nicht die kleinste Träne, ich reibe mir die Augen, bis die Lider brennen. Vielleicht gibt es gar nichts zu betrauern, eine Möglichkeit, die ich bloß noch nicht berücksichtigt hatte. Vielleicht ist es so, wie Maja sagt, und irgendwann ist alle Liebe aufgebraucht, nichts mehr da, was sich verschenken lässt. Wenn das Clin streifenfrei verbraucht ist, dann weint man ja auch nicht, sondern geht in den Laden und kauft eine neue Flasche.
    Ich greife in die Textilmauer, pflücke einen Mantel vom Stapel, schlüpfe hinein. Ein Männermantel, in dem ich beinahe verschwinde, ein weißes Zelt, das nach Blütenwaschmittel duftet. Ich probiere ein paar Ärztinnenschritte. Der Mantel verleiht mir eine Instant-Autorität, ich trage den Kopf hoch und halte mich aufrecht. Frau Doktor Amsel, das wäre wenigstens ein ordentlicher Beruf gewesen, dann ginge ich jetzt mit der größten Selbstverständlichkeit in diesem Gebäude ein und aus.
    Plötzlich öffnet jemand die Tür, ich höre ein Wispern und möchte hinausstürzen, möchte »Hilfe« rufen und »Hier bin ich«, doch als ich die Arme ausstrecke, fällt mir auf, dass ich immer noch diesen Mantel trage, widerrechtlich, und bevor ich ihn ausziehen kann, ist da das Kichern einer Frau, ganz nahe, und das verhaltene Lachen eines Mannes, und dann stürzt etwas um, und als ich zwischen den Kitteln hindurchluge wie durch die Ritzen eines Rollladens, sehe ich zwei, die sich auf dem Boden wälzen, im schmalen Durchgang zwischen der Männermantelabteilung und der Frauenmantelabteilung.
    Der Moment, um auf mich aufmerksam zu machen, ist verstrichen. Ich drücke mich in mein Eck, um das Ende der Veranstaltung abzuwarten. Ich hoffe, dass es sich nur um einen spontanen Kuss handelt, um eine intensive Freundschaftsbekundung in der Arbeitspause.
    Das Lachen der Frau klingt wie das Rattern einer Nähmaschine, bloß drei Oktaven höher.
    »Iredran«, kichert sie, »Iredran«, immer wieder, und ich frage mich, ob es sich um den Namen eines Medikaments handelt oder um den Namen des Mannes. Der Mann hingegen spricht nicht, er atmet nur laut, und als ich einen Blick riskiere, sehe ich ihn über der Frau knien und ihre Bluse aufknöpfen – ganz sorgfältig und mit beiden Händen, so als bereite er sie für eine schwierige Untersuchung vor.
    Ich hoffe inständig, dass es nicht zum Äußersten kommt. Lieber sehe ich einem Chirurgen zu, der in einem offenen Brustkorb hantiert, als fremden Menschen, die ohne erkennbare Notwendigkeit ineinander stochern. Ein peinigender Vorgang, der nur erträglich ist, wenn man selbst daran teilhat. Nacktheit irritiert mich, die eigene noch mehr als fremde.Raoul hatte den binären Code auf unser Liebesleben umgelegt, jeder Tag war entweder 1 oder 0, selbstverständlich sind die 0-Tage mit der Zeit häufiger geworden, sie haben sich unkontrolliert vermehrt, daran hat auch das siebte Flittchen nichts ändern können.
    Um mich nicht vollständig preiszugeben, bemühe ich mich stets, ein Stückchen Fremdheit zu bewahren. Niemals habe ich mich vollständig vor Raoul ausgezogen, etwas habe ich immer anbehalten: die Schuhe, ein Haarband, ein Strumpfband, und wenn es nicht anders ging, klebte ich mir rasch ein Pflaster auf. Raoul sollte niemals das Ganze zur Bearbeitung vorfinden. Einen Teil des Körpers, und sei er noch so klein, habe ich ihm immer vorenthalten, denn wer sich nicht ganz gibt, dem bleibt immer die Möglichkeit, sich zurückzuziehen an einen Ort, der nur einem selbst gehört.
    Iredran und seine Geliebte teilen diese Bedenken nicht, sie ist vollkommen nackt, wie ich mit einem Blick durch die Stapel erkennen kann, weiße, kleine Brüste, knochige Hüften, ein flacher, beinahe nach innen eingesunkener Bauch. Der Mann ist das perfekte Gegenstück, dunkel und behaart, mit Hängebrüsten und respektablem Hüftspeck.
    »Wunderbare Titten«, ächzt der Mann, und die Frau sagt wieder »Iredran«. Vielleicht ist auch das nur ein Spiel, denke ich, das siebte Krankenschwester-Flittchen, heute zwei aus der Internen, morgen drei aus der Chirurgie, ein Spiel ohne Verlierer und ohne Folgen. Der Herr Oberarzt hat eine Niere erfolgreich

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