Südbalkon
Leben verändert.«
»So schnell?« Pawel lacht.
»Das meine ich ernst«, sage ich.
Pawel schaltet in den fünften Gang. »Hat unser –«, er zögert, »kleiner Ausflug damit zu tun?«
»Möglich«, sage ich und möchte, dass er immer weiter fragt, dass er mir alle Geheimnisse entlockt, sogar jene, von denen ich selbst nichts weiß, aber seine Neugierde scheint gestillt, denn er erzählt bereits Anekdoten aus dem Krankenhaus. In Zimmer fünfhundertfünf, sagt er, seien seine Problemfälle untergebracht. Seine , sagt er, so als gehörten sie ihm. Er habe die Patienten gebeten, den Ton des Fernsehers leiser zu drehen, wenn er mit ihnen kommuniziere. Drei von fünfen drehen nun das Licht ab, sobald er das Zimmer betritt. Ichlache, und Pawel sagt: »Das erwartet uns alle, den einen früher, den anderen später.«
»Du fährst nicht?«, fragt Pawel. »Ich habe keinen Führerschein«, sage ich. »Vielleicht später einmal.«
»Wann ist später?«
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Später eben. Wenn alles anders ist.«
»Wann ist alles anders?«
Ich sehe ihn an und frage mich, weshalb er sofort eingewilligt hat, mich zu chauffieren.
Als könne er meine Gedanken lesen, sagt er: »Ich möchte doch nur diese Ruth kennenlernen«, und berührt kurz mein Knie, bevor er seine Hand wieder auf den Schaltknüppel legt. Ich zucke zusammen, ein leichter elektrischer Schlag.
»Ganz ehrlich: Ich könnte mir ein Leben ohne Auto nicht vorstellen«, sagt Pawel.
»Ich kann mir ein Leben ohne die meisten Dinge ganz gut vorstellen«, sage ich.
»Auch ein Leben ohne Mann?«
Er zögert ein wenig vor »Mann«, so als wollte er die Spannung steigern.
»Joker«, sage ich.
Pawel lacht. »Darauf hätte ich wetten können«, sagt er, »dass du kneifen wirst.«
Pawel blickt lange in Seiten- und Rückspiegel, bevor er sich in die langsame Spur der Stadtautobahn einreiht.
»Ich kneife nicht«, sage ich. »Ich weiß es einfach nicht.«
Autos überholen uns. Ausdruckslose Gesichter hinter den Lenkrädern. Auf dem Standstreifen ein alter Mann, der sich auf eine Harke stützt. Der Wind zerrt an seiner Jacke, sein Gesichtist verwittert. Für einen Moment kreuzen sich unsere Blicke. So sieht einer drein, der gerade seinen Hund begraben hat.
Wir halten an einer Tankstelle. Von den Zapfsäulen blättert der Lack, aus der Asphalthaut sprießen kohlartige Gewächse. Über dem Eingang steht in wackeligen Lettern STOP AND S OP. Der Verkäuferin fehlt auch einiges, in erster Linie Haare. Sie scheint unter kreisrundem Haarausfall zu leiden, denkt aber nicht daran, es zu verbergen, und das spielt an diesem Ort auch keine Rolle. Sie trägt einen roten Ledermini und eine enge Cowboybluse mit Hirschhornknöpfen.
Pawel bezahlt einen Schokoriegel an der Kasse und steuert den Kaffeeautomaten an.
»Du auch?«, ruft er mir zu.
Ich schüttle den Kopf und streife durch den Shop. Tageszeitungen, abgepackte Sandwiches, Speiseeis. Neben der Vitrine ein Durchgang, verhängt mit einem lilafarbenen Vorhang. EROTHEK steht über dem Türrahmen. Klingt nach schmierigem Sexshop für polnische Fernfahrer. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass es sich um ein S handelt, nicht um ein R. ESOTHEK?
Ich schiebe den Vorhang zur Seite und schaue geradewegs in eine andere Welt. Schummriges Wellness-Licht, Panflöten-Gedudel, die Luft ist gekühlt und riecht nach Yogastudio. Der Raum ist mindestens fünfmal so groß wie der gammelige Stop-and-Shop-Laden. Eine Verkäuferin mit Mireille-Mathieu-Gedächtnisfrisur staubt mit einem Wedel indische Götterfiguren ab, viel zu tun bei dieser Menge an Armen, Beinen und Rüsseln.
Der schwarz lackierte Fußboden glänzt, als hätte sie ihn soeben höchstpersönlich abgeleckt. Von der Decke baumelnHinweisschilder, wie sie in großen Supermärkten üblich sind. Nur, dass sie hier den Weg zu den Amuletten und Talismanen weisen, zu den Essenzen und Ölen, Klangschalen und Gongs. Das bringt mich auf eine Idee.
»Wir grüßen Sie«, sagt die Verkäuferin.
Wir? Was soll man darauf sagen? Wir Sie auch?
»Voodoo«, murmle ich. »Haben Sie Voodoo-Puppen?«
»Sie meinen Rachepuppen«, sagt sie. »Atzmänner.«
»Sie wissen schon«, sage ich und tue so, als würde ich eine Nadel in ein Objekt piken. Es ist mir unangenehm, aber es muss sein. Ich verlasse meine Komfortzone, Anton Pschill wäre stolz auf mich.
»Schwarze Magie können wir nicht unterstützen.« Sie klopft auf einen Pin an ihrem Revers. Fairer statt fauler Zauber. »Wir
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