Südbalkon
Zwischenfall gegeben, sagte der Sprecher. Nicht einen. Waren die Tiger besonders gut gelaunt, konnten die Touristen – sofern sie bereit waren, den Obolus an den Orden zu erhöhen – um eine Extrawurst ansuchen: Die Mönche legten einem dann den Kopf des Tigers in den Schoß.
»Gib mir deinen Finger, ich möchte auch knabbern«, sagte Johannes, und wieder stieß ich ihn weg. Ich spürte, dass diese Dokumentation eine Botschaft für mich bereithielt, und überlegte fieberhaft, was die Mönche mit meinem Leben zu tun hatten. Ich bekam Gänsehaut vor Aufregung, ich schlüpfte aus Johannes’ Umarmung und setzte mich kerzengerade vor den Fernsehschirm. Als der Abt des Tigertempels sagte: »Wer mit Tigern umgehen kann, der meistert auch sein Leben«, verstand ich, weshalb ich so weit davon entfernt war, mein Leben zu meistern. Dass irgendwo da draußen das echte Leben auf mich lauerte. Und dass ich weitergehen müsste, da ich sonst die Tiger bis zum Ende meiner Tage nur durch eine Glasscheibe betrachten würde.
Ich lege mich auf das Bettsofa und blättere durch das Buch, das mir so viel kostbarer erscheint als jedes andere Buch, jetzt, da es Vergangenheit und Gegenwart mit einem unsichtbaren Band verknüpft, und wer weiß, vielleicht führt es auch in die Zukunft.
Nicht gleich entmutigen lassen, schreibt Anton Pschill. Ein Tiger verbringt viel Zeit auf der Jagd, da nur zehn Prozent seiner Beutefänge von Erfolg gekrönt sind. Derart niedrige Erfolgsquoten wären, umgelegt auf die menschliche Existenz, nichts anderes als Beweise des Scheiterns. Deshalb: Nicht entmutigen lassen, auch nicht durch lange Durststrecken. Einfach raus aus der Komfortzone, rein in die Wildnis.
Pawel hat mit seinem Geschenk ins Schwarze getroffen. Ich muss hier weg, bevor Raoul zurückkehrt. Rein in die Wildnis. Ich hole den Trolley aus seinem Versteck, ein graues fleckiges Monstrum, das sein Maul bereitwillig öffnet. Plötzlich habe ich es eilig, zu verschwinden, ich öffne den Schrank und werfe wahllos Kleidungsstücke in den Koffer, ohne sie zusammenzufalten, ein Kleiderknödel aus Slips, Shirts, Strumpfhosen, einer Pluderhose und meinem Traueranzeigenkostüm. Währenddessen laufen mir Tränen die Wangen herunter, und weil ich keine Hand freihabe, um sie wegzuwischen, tropfen sie auf den Boden. Ich stelle mir vor, dass ich den Boden wischen werde mit meinen Tränen, je mehr ich schrubbe, umso mehr wird es aus den Augen fließen, bis ich ganz ausgetrocknet bin, eine Vorstellung, die mich noch trauriger macht.
Den Paillettenrock lasse ich im Schrank hängen, denn das siebte Flittchen darf nicht mit, es muss in der Przewalskistraßenwohnung versauern, dort, wo es geboren wurde, wird es sterben. Ein Glück für die anderen Flittchen, endlich kommensie zum Zug. »Viel Spaß!«, rufe ich und denke gleichzeitig: So, jetzt ist es soweit. Jetzt wirst du verrückt. Ich knie vor dem Koffer und stopfe meine Turnschuhe in den Kleiderhaufen, die Winterstiefel müssen auch noch hinein, bald ist es Winter, ich friere bereits.
Als es klingelt, schließe ich gerade den Zippverschluss. Dem Trolley ist ein Bauch gewachsen, er ist dick und fett, ein Stoffballon kurz vorm Platzen. Ich stolpere zur Tür, davor steht Maja im Businesskostüm, und ich weiß im ersten Augenblick nicht, ob ich ihr die Tür vor der Nase zuwerfen oder sie hereinbitten und mich bei ihr ausweinen soll.
Maja nimmt mir die Entscheidung ab, sie sagt: »Was ist los mit dir, ich habe versucht, dich zu erreichen«, und die tiefen Falten zwischen ihren Augenbrauen beweisen mir, dass sie es ehrlich meint. »Wie siehst du überhaupt aus!« Sie nimmt mich am Arm, führt mich zum Spiegel, und ich schließe schnell die Augen. Diese zerknitterte Frau mit roter Nase und schmalen Lippen will ich nicht sehen.
»So schlimm?«, sagt sie und will mich in den Arm nehmen, aber ich kann jetzt keine Nähe ertragen, ich brauche Luft zum Atmen.
Ein Blick auf den Koffer. »Du verreist?«
Ich zucke mit den Schultern. »Was machst du hier?«
»Wir haben einen Termin, Schätzchen«, sagt Maja und klopft auf ihren Laptop, der aus ihrer Handtasche hervorlugt. »Keine Hausaufgaben gemacht?«
»Ich überlege mir das noch einmal«, murmle ich.
»Wie bitte?«
»Mit der Selbständigkeit.«
Da packt sie mich am Arm und schleift mich ins Wohnzimmer.»Jetzt setzen wir uns mal, verehrtes Fräulein«, sagt sie. »Was geht denn in unserem Kopf vor?«
Sie redet bereits wie eine Krankenschwester mit einer Patientin,
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