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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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sind Erinnerungen da. An diesen Moment, als ich mich getraut hatte, den Schwangerschaftstest zu überprüfen. Diese Freude, zwei zu sein, ein Doppelwesen, ein Wunder der Natur. Doch der Augenblick, von dem Pawel sprach, war mir nicht vergönnt. Da kam nur Blut, viel zu früh, kein Kind, und niemand freute sich, keiner gratulierte. Meine leeren Arme schmerzen.
    »Was ist los?« Pawel beäugt mich misstrauisch.
    »Meine Augen brennen«, sage ich. »Der Luftzug.«
    Pawel schließt das Fenster.
    »Du bist dran«, sagt er.
    Ich überlege, was ich Pawels Geschichte entgegensetzen kann, doch alles, was mir einfällt, klingt schal und erbärmlich. Was ist es, worauf ich nicht verzichten könnte? Ist es mein Balkon? Der Blick hinauf zu den Wolken und hinunter auf die Blutgefäße der Stadt? Dieses Gefühl, wenn ich mich über die Brüstung beuge, bis mein Kopf ganz schwer ist und voll mit Blut? Der Moment, in dem ich denke: noch ein bisschen, nur noch ein bisschen?
    »Na?«, sagt Pawel.
    »Ich glaube, du hast gewonnen«, sage ich.
    »So schnell?« Er lacht. »Und was habe ich gewonnen?«
    Ich kann ihm unmöglich den Gewinn anbieten, den Raoul in so einem Fall für sich reklamiert.
    »Du hast ein weiteres Spiel gewonnen«, sage ich. »Es heißt: Wo ich niemals leben möchte . Ich beginne, dann bist du dran.«
    Am Horizont wächst die Skyline des Wohnparks »Neue Welt« in den Himmel. Gigantische Wohntürme, die sich nach unten hin verbreitern. Hässliche Pyramiden, an die man Balkone drangeschraubt hat. Ein beliebter Hotspot für Selbstmörder. Einige haben sich schon von der Dachterrasse gestürzt und sind auf einem der unteren Balkone aufgeschlagen, zwischen Pelargonien und Kugelgrill. Der Wohnpark ist ein Dauerbrenner, sowohl in der Kategorie Wo ich niemals leben möchte als auch in der Kategorie Wo ich niemals sterben möchte .
    Ich zeige also auf die Türme und sage: »Neue Welt. Da möchte ich niemals leben.«
    »Da?«, sagt Pawel. »Bist du sicher?«
    »Ganz sicher«, sage ich. »Jetzt du.«
    Pawel blinkt, reiht sich in die rechte Spur ein und verlässt die Stadtautobahn an der Ausfahrt Neue Welt .
    »Das möchte ich überprüfen«, sagt er.
    »Das ist ein Spiel «, sage ich.
    »Und deswegen soll ich es nicht ernst nehmen?«
    Ich sehe auf die Uhr. Es ist vierzehn Uhr fünfzehn. Donnerstag, der 19. August.

24
    Aus der Nähe wirken die Wohntürme noch bedrohlicher. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schaue hinauf zu den Balkonen. Schlaffe Kletterpflanzen, die sich am Sichtbeton entlangranken, gelbweiß gestreifte Markisen. Dazwischen ein Eckchen Himmel, eingeklemmt zwischen der Pyramide und dem Docht des Fernheizkraftwerkes.
    »Ich hatte recht, siehst du. Können wir weiterfahren?«
    »Ich denke nicht«, sagt Pawel. Er überquert einen Grünstreifen, der den Weg zwischen zwei Türmen zerteilt. Ich trotte ihm nach.
    Er visiert geradewegs Block D an, so als hätte er ein konkretes Ziel. Wir steigen die Stufen zum Eingangstor hinauf. Verwitterte Namensschilder unterhalb der Gegensprechanlage. Eine Graffitikatze sieht uns an
    »Und jetzt?«
    »Lass mich nur machen«, sagt er.
    Er klingelt links oben. Bei Kronberger .
    »Ja?« Eine Frauenstimme, atemlos.
    »Guten Tag«, sagt Pawel. »Pini vom Dekanat für Hochhauspsychologie. Wir möchten Sie befragen, es geht um eine wissenschaftliche Arbeit. Öffnen Sie bitte die Tür.«
    Keine Frage, eine Aufforderung. Das darf alles nicht wahr sein. Ich zupfe ihn am Hemd, er verscheucht meine Hand wie ein Insekt.
    »Neunundzwanzigster Stock«, sagt die Frau. Ein Summen, Pawel öffnet die Tür.
    »Was hast du vor«, zische ich, als wir durch den schmucklosen Flur gehen, aber Pawel sagt nur: »Du hast etwas behauptet, und das will ich nachprüfen. Das ist alles.«
    Wir besteigen den Aufzug, eine schmale Kabine mit einem verschmierten Spiegel. Es riecht nach Hund. Der Aufzug setzt sich schwerfällig in Bewegung.
    Ich lehne mich an die Rückwand der Kabine. Vielleicht wollte er mich hierherlocken, um mir näherzukommen, denke ich, aber Pawel macht keinerlei Anstalten, sich mir zu nähern. Im Gegenteil: Er lehnt an der gegenüberliegenden Wand der Kabine, so weit weg von mir wie nur möglich, und mustert kritisch den Lift.
    »Ich habe eine Patientin betreut«, sagt er, »die an Platzangst litt. Sie hat eine Strategie entwickelt, um dennoch mit dem Aufzug fahren zu können. Du wirst es nicht glauben, aber sie legte sich flach auf den Boden und betete den Rosenkranz:
    Gegrüßt seist du,

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