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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat.«
    Ich kichere. Der Wahnsinn, der andere trifft, hat immer etwas Befreiendes. Geht das überhaupt? Blut schwitzen? Und wie sieht das aus? Wasser zu schwitzen ist schon unappetitlich genug.
    »Blut schwitzt man nur in Todesangst«, sagt Pawel. »Unter extremer Anspannung. Dann platzen die Hautäderchen, und das Blut fließt zusammen mit dem Angstschweiß ab. Über die Poren.«
    Kaum hat er den Satz beendet, kniet er bereits auf dem Boden und versucht, sich auszustrecken, doch die Liftkabine ist zu eng, wie ein verkrümmter Frosch hockt er da, als der Liftabrupt stehenbleibt, sich die Türen öffnen und wir geradewegs in die schreckensgeweiteten Augen einer alten Frau blicken. Sie ist klein und schrumpelig, wie ein Kleidungsstück, das mit zu hoher Drehzahl geschleudert wurde.
    »Nichts passiert«, sagt Pawel und greift nach meinem Arm, um sich aufzurichten. Umständlich klopft er sich die Hose ab.
    »Ein Versuch«, sagt er zur Frau gewandt. »Ein wissenschaftlicher Versuch.«
    Sie nickt, stumm. In ihren Augen spiegelt sich die Ehrfurcht vor dem Akademischen.
    Sie bittet uns in einen dunklen Flur, dann weiter in ein dunkles Wohnzimmer. Kassettendecken, Biedermeier-Mobiliar, eine Pendeluhr. Es riecht nach nasser Wolle. Diese Frau gehört in eine Altbauwohnung im Zentrum, denke ich, mit Flügeltüren und hohen Decken, damit die Erinnerungen zirkulieren können.
    Sie bietet uns etwas zu trinken an, und ich sage: »Bitte keine Umstände«, aber sie scheint sich tatsächlich über den Besuch zu freuen. Sie mustert Pawel unverhohlen.
    »Von welchem Dekanat, sagten Sie, sind Sie?«
    »Wir untersuchen die Auswirkungen der Wohnhöhe auf die psychische Verfassung«, sagt er. »Ob Nestbewohner, wie Sie einer sind, glücklicher sind als Höhlenbewohner. Für eine Wohnstatt in dieser Höhe war ja der Mensch ursprünglich nicht gebaut.«
    »Glück«, sagt die Frau und schüttelt den Kopf. »Da haben Sie sich aber ein großes Thema vorgenommen.«
    »Alle Themen werden groß, wenn man sich nur lang genug mit ihnen beschäftigt«, sagt Pawel.
    Die Frau füllt eine dunkle Flüssigkeit in zwei Schnapsgläser.
    »Zirbenschnaps«, sagt sie. »Gut für die Seele.« Sie lacht. Ein raumfüllendes Lachen, viel größer als sie selbst.
    Ich nippe am Glas. Der Schnaps schmeckt nach Wald. Ich sehe mich um in diesem Zimmer, das hoch über der Stadt zu schweben scheint. Alles hier drin ist vor den Zumutungen des Alterns geschützt. Eine Tischdecke aus Plastik schützt den Tisch, das Hochlehner-Sofa ist über und über mit gemusterten Tagesdecken bedeckt. Auf dem Boden: transparente Plastikläufer, dort, wo kein Teppich liegt. Nur das Gesicht der Frau war immer allen Witterungen ausgesetzt, es ist zerknittert und vergilbt wie eine alte Fotografie.
    Pawel plappert indessen ohne Punkt und Komma, er erzählt von seinem Lehrauftrag, von seiner Forschungstätigkeit an der Uni Wien, von den internationalen Kongressen zum Thema Niedrighaus- und Hochhauspsychologie, vom Spezialfach Almhüttenforschung – zu Forschungszwecken habe er zwei Monate 2500 Meter über dem Meeresspiegel verbringen müssen –, und ich lausche seinen absurden Ausführungen ebenso konzentriert wie die alte Frau.
    Bis sie uns auffordert, ihr auf ihren Südbalkon zu folgen, dort könne man das Hochhaus am besten spüren, wie sie sagt.
    Sie öffnet die Balkontür, wir treten alle hinaus, der Wind bläst uns ins Gesicht. Vor uns liegt das Ensemble der Häuser und Straßen aufgerollt da wie ein Teppich, kein Laut, der hier heraufdringt, so als stünde man auf einem anderen Planeten.
    »Und?«, flüstert Pawel. »Bist du immer noch der Meinung, dass man hier nicht leben kann?«
    Die Frau hat sich in einen Lehnstuhl gesetzt. Das hier, sagt sie, sei ihr ganz persönlicher Fernsehschirm. Sie beobachte denWechsel der Farben der Stadt, des Himmels, der Zone zwischen Stadt und Himmel, die eine unendliche Ruhe berge, wie die Pause zwischen Ein- und Ausatmen.
    Als ich das nächste Mal zu ihr hinsehe, hat sie ihre Augen geschlossen, und eine halbe Minute später immer noch.
    »Lebt sie noch?«, flüstere ich.
    Pawel sieht zu ihr hinüber, dann sagt er: »Keine Sorge. Sie schläft.«
    Wir beugen uns über das Geländer, um die Balkone der Nachbarn zu betrachten. Pawel deutet auf das Grünzeug. Nur Zierpflanzen, sagt er, Nutzpflanzen

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