Südbalkon
seien im Wohnpark »Neue Welt« keine erlaubt, doch wo wir auch hinsehen, überall identifizieren wir Tomatenstauden, Miniatur-Kräutergärten, Salatbeete. Ein vertikaler Garten, der in den Himmel wächst.
Plötzlich spüre ich Pawels Hand auf meiner Schulter, langsam streicht er über meinen Rücken, während sein Blick immer noch auf die Balkone gerichtet ist, eine seltsame Diskrepanz zwischen seinem Kopf und seiner Hand, als seien sie von zwei unterschiedlichen Systemen gesteuert.
»Ich möchte dich kennenlernen, Ruth«, sagt er und sieht immer noch hinunter auf die Balkone. »Ich möchte, dass wir einander eine Geschichte aus unserem Leben erzählen, die wir noch niemandem erzählt haben.«
Jetzt dreht er sich zu mir, sieht mir in die Augen. »Als ich ein kleines Kind war, war ich oft in den Bergen. Dieses Haus erinnert mich daran. Ich wollte immer der erste auf dem Gipfel sein. Dann hab ich hinuntergeschaut, so wie jetzt. Und mich gefühlt wie der König der Welt. Ich hab kleine Steine hinuntergeworfen vom Gipfel. Das war meine Art, der Welt zu zeigen, dass ich da war. Als mein Großvater das gesehen hat,ist er wütend geworden. ›Wenn einer deiner Steine einen Wanderer trifft‹, hat er gesagt, ›dann kann ihn das schwer verletzen. Oder sogar töten.‹ Seither verfolgt mich die Angst, dass ich als Kind zum Mörder geworden bin.
Wenn ich jemanden kennenlerne, überprüfe ich immer als erstes, ob der Kopf heil ist. Das mache ich auch bei den Patienten so. Darf ich?«
Er tastet meinen Schädel ab wie ein Blinder. Seine Hände, die sonst über schwielige, kranke Haut streichen, gehören in diesem Moment mir allein.
»Kein Loch«, flüstere ich.
»Bist du dir ganz sicher?«
Und plötzlich küsst er mich, und das geschieht so abrupt, dass mein Herz einen Sprung macht. Unser Atem vermengt sich, er küsst meine Augen, meine Stirn, meine Wangen, und ich höre nicht auf, mich darüber zu wundern. Ich schlüpfe mit den Händen unter sein Hemd, vielleicht finde ich dort eine Antwort. Seine Haut ist glatt und makellos, seine Schulterblätter stehen ab, gestutzte Flügel. Meine Finger gleiten über seinen Rücken wie über einen gefrorenen See.
»Mein Großvater hat mir die Welt erklärt«, sagt er. »Auf seine Art und Weise. Er wollte, dass ich widerstandsfähig werde, ich musste im kalten Fluss baden und im Wald übernachten. Aber ich wurde nur immer empfindlicher, je mehr er versuchte, einen Klotz aus mir zu machen.«
Zwischen seinen Worten drückt mir Pawel schnelle Küsse auf die Mundwinkel, danach sieht er mich an, wie um sich zu vergewissern, ob es mir gefällt.
Auf diese Weise bin ich noch nie geküsst worden. Johannes sabberte in meinen Mund, wenn er mich küsste. Raoul drücktseine Lippen auf meine wie ein Brett, zumindest hat er das früher getan. Seit längerem schon küssen wir uns nicht mehr, selbst wenn wir Sex haben. Maja sagt, das sei normal, auch sie küssten sich nicht mehr. Küssen sei etwas für Phase eins, ein Test für weitere Annäherungen, wenn diese absolviert sei, habe das Küssen seine Schuldigkeit getan.
Pawels Hand schlüpft unter mein Shirt und legt sich, ohne zu zögern, auf meine Brust. Er ist Pfleger, er weiß, was er tut. Ich schließe die Augen. Regenbogen hinter den Lidern. In Windeseile und mit routinierter Geste öffnet er meinen BH. Wahrscheinlich muss er gebrechliche Patientinnen oft auf diese Weise entkleiden. Er hält meine Brust in seiner Hand, als würde er sie wiegen.
»Ich durfte ihm nicht sagen, dass ich lieber zu Hause blieb, um zu lesen«, flüstert Pawel, und ich schrecke auf, denn ich weiß nicht, wovon er spricht. »Wer?«, flüstere ich, und Pawel sagt: »Großvater.«
Seine Hand wächst, dehnt sich aus, plötzlich ist sie überall, streicht konzentriert über meine Konturen. Da kommt etwas in Bewegung, ein Zug, der lang in der Remise stand, und plötzlich pfeift der Schaffner, und es kann losgehen, Zielort unbekannt.
Und je näher mir Pawel ist, umso mehr sehne ich mich nach seinen Berührungen, wie wird es erst sein, wenn er wieder weg ist?
Als es klingelt, geht alles ganz schnell: Die alte Frau schreckt hoch, Pawel nimmt seine Hände aus meinem Shirt, ganz nackt fühle ich mich ohne seine Berührungen. Ich frage mich, woher dieses Klingeln kommt, das alles zerstört, und Pawel sagt: »Das bist du.«
Tatsächlich, ich sehe auf das Display meines Handys, eineunbekannte Nummer, und um es schnell zum Verstummen zu bringen, nehme ich den Anruf
Weitere Kostenlose Bücher