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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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nicht mehr aufs Klo, sah immer das Blut auf den Fliesen. Ich habe es in meiner Vorstellung gesehen, und das genügte.«
    »Komm her«, sagt Pawel und angelt mit der Hand nach meinem Bein, aber ich entziehe mich, er ist mir fremd, dieser Mann auf meinem Jugendbett, wie ausgeschnitten aus einer anderen Kulisse und hierher verpflanzt. Raoul war oft hier, an seinen Anblick in meinem Bett hatte ich mich gewöhnt.
    Ich öffne den Kleiderschrank und erstarre. Ich erwartete, meine Kleider vorzufinden, Herr Walter fragte nach der Erlaubnis, ausräumen zu dürfen, es war nie die Rede davon, dass er bereits alle meine Sachen verschwinden ließ. Offenbar konnte es ihm nicht schnell genug gehen mit seinem Einzug, denn da ist nichts mehr, was mir gehört. Herrn Walters Anzüge hängen sorgfältig und nach Farbe geordnet im Schrank, beige, aschgrau, schwarz. In den Regalen seine Hemden, seine Unterhemden, seine Socken, allesamt schwarz. Rasch öffne ich die Laden der Kommode, um mich zu vergewissern, ob er sichauch dort breitgemacht hat. Und tatsächlich: Unterhemden, Boxershorts, in jeder Lade wohnt bereits Herr Walter.
    Ich setze mich auf mein Bett, erschöpft, und Pawel schlingt seinen Körper um mich. Ich rücke sofort ab.
    »Was hast du?«
    »Das ist nicht mehr mein Zimmer«, sage ich traurig. Ein lächerlicher Satz aus dem Mund einer Frau, die selbst längst ein Kind haben sollte, und als mir das bewusst wird, sinke ich noch ein wenig tiefer in die alte Matratze. Ich kann mir Herrn Walter nicht vorstellen, wie er daliegt in meinem Mädchenbett. Ob er ein langes Nachthemd trägt? Oder einen gestreiften Pyjama? Vielleicht ist er sogar nackt?
    »Ist dir nicht gut?«, fragt Pawel besorgt.
    »Kein Tiger hier drin«, sage ich und zeige auf meine Brust. »Und selbst wenn, weiß ich nicht, womit ich ihn füttern soll.«
    Pawel nickt und sagt: »Das haben wir gleich. Die Patientin darf es sich bequem machen und entspannen.«
    Noch bevor ich protestieren kann, ist er aus dem Zimmer gelaufen, und ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Schon steht er wieder im Zimmer, und ich frage mich, wo er in dieser Geschwindigkeit all die Utensilien gefunden hat, die er auf dem Bett ausbreitet: ein Wollknäuel, eine leere Mineralwasserflasche, Stricknadeln, Heftpflaster.
    Ich möchte ihn fragen, was er vorhat, aber er hantiert bereits zielgerichtet mit Wolle und Flasche und sagt auf einmal: »Gib mir deinen Arm«, und ich halte ihm meinen Arm hin wie eine folgsame Patientin. Pawel klebt eine dunkelrote Stricknadel mit Pflastern an der Innenseite meines Arms fest, die Nadelspitze rastet an der blauen Ader. Anschließend befestigt er ein Ende des Wollfadens an der Stricknadel und das andereEnde am Hals der Mineralwasserflasche. Ich sehe ihm bei dieser Verrichtung zu, er wirkt ernst und konzentriert, so als ob er tatsächlich ein medizinisches Ritual vornähme. Dann dreht er die Flasche um, hält sie an ihrem Bauch hoch in die Luft und sagt: »Die Infusion ist serviert, Madame«, und als ich lache, weist er mich zurecht: »Das ist nicht zum Lachen, du wolltest deinen Tiger füttern, also füttern wir ihn.«
    »Und was ist in der Infusion drin?«
    »Was du willst.«
    Ich will sagen: Ich hätte gern ein Kind, aber dann sagt er bestimmt, dass man dafür andere Maßnahmen ergreifen müsse, für die ich gleich im Bett liegenbleiben könne, auch dafür hätte er die erforderlichen Therapiegeräte vorrätig. Vielleicht ist auch mein Kinderwunsch nur Einbildung, so wie der Beziehungswunsch Projektion ist. In Wahrheit wünsche ich mir, ewig unter den Fittichen der Gesellschaft für W. ruhen zu können und ein Sekundärleben zu führen, ganz ohne gröbere emotionale Ausschläge. Keine Fieberkurve, sondern eine Nulllinie wünscht sich der Tiger, der nicht über Krallen verfügt, sondern über abgebissene Nägel, weil er ohnehin nicht auf die Jagd geht. Ins Unterholz möchte er sich zurückziehen, unbeachtet vom Rudel, das ist der Ort, wo es sich gut leben und bestimmt auch gut sterben lässt.
    Ich sehe sie zuerst. Sie tupft an die Tür, die sofort nachgibt, und dann stehen sie im Rahmen, unbewegt wie in einem Stillleben: Meine Mutter, flankiert von Herrn Walter auf der einen und meinem Vater auf der anderen Seite. Das Trio ist nach Hause zurückgekehrt.
    »Was ist denn da los«, flüstert meine Mutter. »Ruth, bist du krank?«
    Ihr Blick springt von mir zu Pawel, der immer noch die Mineralwasserflasche hochhält, so als müsse er garantieren, dass

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