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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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tatsächlich Flüssigkeit in meine Vene gelangt.
    »Das ist nicht das, wonach es ausschaut«, sage ich, während ich mich aufsetze und die Pflaster mitsamt der Stricknadel vom Arm reiße. »Seht ihr? Ein Spiel.«
    Es befremdet mich, dass dieses »ihr«, das bisher immer nur zwei Menschen umfasste, nämlich Mama und Papa, plötzlich eine dritte Person miteinschließt. Herr Walter hat sich bereits angepasst, er trägt Jeans wie mein Vater und ein gelbes Poloshirt.
    »Aha«, sagt meine Mutter. Die Männer bleiben stumm.
    »Das ist Pawel«, sage ich. »Pawel ist Krankenpfleger.«
    »Na, da schau her«, sagt meine Mutter. Medizinische Berufe sind in der Familie stets willkommen.
    »Ihr bleibt zum Essen«, sagt sie. Keine Frage, eine Feststellung. Dann verschwindet sie mit ihrer Entourage.
    »Familie«, sage ich und zucke mit den Schultern.
    »Schön«, sagt Pawel, »wenn man so etwas hat.«
    Ich betrachte sein Gesicht, das Zeichen von Entbehrung zeigt, und sage: »Du kannst deine Eltern doch auch besuchen, in Sizilien«, und gleichzeitig zweifle ich an der Version der Geschichte, wer weiß, ob er mir die Wahrheit erzählt hat.
    »Ich weiß nicht, ob sie mich sehen wollen«, sagt Pawel.
    »Eltern wollen ihre Kinder immer sehen«, sage ich.
    »Und deine Eltern? Wollen sie dich immer sehen?«
    »Ich denke schon«, sage ich. »Zumindest habe ich mir darüber noch nicht den Kopf zerbrochen.«
    »Sehr froh sahen sie nicht aus«, sagt Pawel.
    »Bei uns freut man sich innerlich«, sage ich.
    Pawel wickelt die Wolle auf und steckt die unbenutzten Pflaster zurück in die Schachtel.
    »Und wie geht es dem Tiger?«, fragt er. »Trotz abgebrochener Behandlung auf dem Weg der Besserung?«
    »Es gibt keinen Tiger«, sage ich.
    Als ich in die Küche komme, spült meine Mutter eine große Pfanne. Mein Vater steht daneben, ein Geschirrtuch in der Hand. Ein schlechtes Schauspiel mit miserablen Darstellern.
    »Ich bin gekommen, um meine Sachen zu holen«, sage ich.
    »Deine Sachen?« Meine Mutter sieht mich an, als wüsste sie nicht, wovon ich spreche. Mein Vater poliert angestrengt ein Messer mit dem Geschirrtuch, dabei glänzt es ohnehin schon wie ein Skalpell.
    »Meine Kleider«, sage ich. »Wo sind sie?«
    »Deine Kleider?«
    »Die Kleider aus meinem Schrank! Spreche ich undeutlich?«
    Da tritt Herr Walter aus den Tiefen der Küche, wie kommt es, dass ich ihn vorher nicht gesehen habe?
    »Wir sind davon ausgegangen, dass Sie die Kleider nicht mehr benötigen«, sagt Herr Walter. So ist das also. Er ist bereits zu ihrem Sprachrohr geworden.
    »Wie kommen Sie darauf?«, fauche ich ihn an.
    »Ruth, beruhige dich«, sagt meine Mutter.
    »Rege ich mich auf? Ich rege mich nicht auf! Ich will nur wissen, wo meine Kleider geblieben sind!«
    Herr Walter legt mir eine Hand auf die Schulter. Sofort knicke ich ein unter dieser Last. »Wir haben sie zur Caritas gebracht«, sagt er mit salbungsvoller Stimme. »Es gab eine Kleidersammlung. Für Rumänien.«
    »Für Rumänien«, sage ich. »Gut zu wissen.«
    Als Pawel die Küche betritt, zupfe ich ihn am Hemd.
    »Komm, wir gehen«, sage ich.
    »Kommt nicht in Frage, ihr bleibt«, sagt meine Mutter. »Ruth, bitte decke den Tisch.«
    »Ich helfe Ihnen«, sagt Pawel und nimmt von meiner Mutter die Feiertags-Suppenteller entgegen, die mit dem grünen Blümchenmuster.
    »Sie haben schöne Hände«, sagt Pawel.
    Sie kichert wie ein Teenager.
    »Charmant, dein Freund«, sagt sie.
    Mein Vater poliert immer noch das Messer, ganz versunken ist er in seine Tätigkeit. Herr Walter faltet indessen die Stoffservietten. Er weicht meinen Blicken aus.
    »Ich habe einen Job«, sage ich in die Stille hinein und wundere mich, wie heiser meine Stimme klingt.
    »Ich werde arbeiten«, sage ich noch einmal, und bevor jemand eine Frage stellen kann: »Ich mache mich selbständig.« Mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte ich monatelang auf diesen Moment hingearbeitet.
    »Schön, Ruth«, sagt meine Mutter.
    Das war’s. Keiner fragt, was ich zu tun gedenke. Ich könnte genauso gut sagen: Ich ziehe mit einem Elchzüchter in die Walachei. Ihr Interesse an mir ist mit den Jahren erschlafft. Pawel ist der einzige, der mich ansieht. »Du bist wunderbar, Ruth«, sagt er. Und richtet das Besteck aus, alles schön gerade und im rechten Winkel.
    Auf einmal steht Raoul in der Tür. Wie auf Kommando drehen sich alle nach ihm um. Raoul plustert den Brustkorb auf wie ein Pavian auf Brautschau.
    »Das ist aber schön, dass du auch

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