Süden und das Geheimnis der Königin
Pension lag in der Nähe des ehemaligen »Bärenwirts«, in dessen zerstörten Räumen Grosso starb. Wenn Aroppa auf der Suche nach seinem Vetter war, warum wandte er sich nicht an die Polizei? Es war Zeit aufzubrechen.
12
U neinig, wohin wir gehen sollten, entschied ich mich für ein griechisches Restaurant in der St.
Martinstraße, von wo aus ich im Gegensatz zu meinen beiden Begleitern in zehn Minuten zu Hause war. Wir aßen an einem Tisch auf dem Bürgersteig gegenüber einer Kneipe, in der früher namhafte Folk und Bluesmusiker auftraten. Wir teilten gerade die Vorspeisen – Weinblätter, Tsaziki, Gemüse und Bohnen – unter uns auf, als Karl Funkel sagte: »Das ist keine Liebe, das ist Macht, Machtausübung. Und Unterwerfung möglicherweise.« Ich hatte Martin Heuer nichts von meinem Gespräch mit Funkel erzählt und erklärte ihm jetzt, worauf der Satz anspielte.
»Es ist schlicht Unrecht«, sagte Martin und steckte die volle Gabel wie immer so schnell und so oft hintereinander in den Mund, als hocke der böse langschnablige Vorspeisenklauvogel auf seiner Schulter. Ich sagte: »Es ist Unrecht aus der Sicht von Menschen, die bestimmt haben, was Unrecht ist.«
»Wir gehören zu diesen Menschen«, sagte Martin.
»Entschuldigt uns das?«, fragte ich.
»Ein Vater, der mit seiner Tochter schläft, übt Macht über sie aus«, sagte Funkel.
»Er ist gewalttätig. Die Tochter hat keine Wahl.«
»Aber darum geht es nicht«, sagte ich.
»Nur darum geht es«, sagte Funkel. Er stocherte in den Dolmades und schob sie an den Tellerrand.
»Nein«, sagte ich.
»Dieser Vater hat vielleicht keine Gewalt auf seine Tochter ausgeübt. Seine Tochter hatte vielleicht eine Wahl.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Martin.
»Ich weiß es nicht, ich vermute es.«
»Warum?«
»Du täuschst dich«, sagte Funkel.
»Du vergisst die Mutter, sie wurde tablettensüchtig, sie ertrug die Situation nicht, sie sah, was ihr Mann seiner Tochter antat. Und sie war zu schwach, um sich zu wehren.«
»Warum hat sie sich nicht gewehrt?«, fragte Martin, der schon aufgegessen hatte.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
»Bleiben wir beim Vater und der Tochter…«
»Das können wir nicht«, sagte Funkel.
»Wenn alles so harmonisch gewesen wäre, wie du sagst, hätte die Mutter keinen Grund gehabt, sich zu betäuben, Schuldgefühle zu bekommen, wegzusehen, Selbstmord auf Raten zu begehen.«
»Sie dachte wie du«, sagte ich.
»Sie dachte, wie wir zu denken gewohnt sind. Sie sah ihren Mann und ihre Tochter und was sie sah, war Unrecht, eine Schande, eine Sünde.«
»So ist es.«
»Das wissen wir nicht«, sagte ich. Der Wirt räumte die Teller ab.
»Wir warten noch«, sagte ich.
»Kein Problem«, sagte der Wirt. Wir bestellten Bier und Martin einen Ouzo dazu.
»Weiß du, wie sehr die Tochter gelitten hat?«, sagte Funkel.
»Weißt du, wie es in ihrer Seele ausgesehen hat, als sie verschwunden ist? Weißt du, ob sie nicht genau deshalb verschwunden ist? Aus Schuldgefühlen, aus Ekel, aus Zorn? Weißt du das?«
»Sie war einundvierzig«, sagte ich.
»Sie lebte zu Hause, sie hatte einen Beruf, sie war Sekretärin…«
»Sie hatte große psychische Probleme«, sagte Funkel.
»Sie hat es nie lange an einem Arbeitsplatz ausgehalten, sie war gestört, sie kam mit Männern nicht zurecht, sie spielte sie gegeneinander aus, sie benutzte sie, sie gab einen Mord in Auftrag, sie war vollkommen unberechenbar.«
»Trotzdem kann sie ihren Vater mehr geliebt haben als jeden anderen Mann«, sagte ich.
»Glaubst du, sie haben noch miteinander geschlafen?«, fragte Martin.
»Ja«, sagte ich.
Funkel kratzte sich an der Oberkante der Augenklappe und lockerte die Krawatte und rang nach Worten. Meine rasche Antwort empörte ihn.
»Nein«, sagte er.
»Nein, so können wir nicht weiterreden. Worauf willst du hinaus? Entschuldigst du diesen Mann? Sprichst du ihn frei von der Schuld, die er auf sich geladen hat?«
»Die Schuld, die du meinst, ist eine katholische Schuld«, sagte ich.
»Das ist mir egal!«, sagte Funkel laut und nickte in Richtung der Gäste, die irritiert zu uns hersahen.
»Es ist die Art Schuld, die ich ernst nehme! Wenn du sie katholisch nennen willst, tu das! Es ist aber unwichtig, ob du sie so nennst. Es bleibt Schuld. Es gibt keine Entschuldigung dafür, wenn ein Vater seine Tochter missbraucht.«
»Vielleicht hat er sie nicht missbraucht«, sagte ich.
»Bist du betrunken?«, sagte er, bemüht, seine Stimme zu
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