Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
dass sie negativ ausgehen.« Er hatte Recht.
Ich sagte: »Wir wissen nicht, was mit Grauke los ist. Bevor ich nicht geklärt habe, warum er sich vor sechs Jahren umbringen wollte, läuft die Suche weiter.«
Thon nestelte an seinem Halstuch. Er war fast zehn Jahre jünger als ich und einer der wenigen Kollegen, die ein intaktes Familienleben hatten. Mit seinem kleinen Sohn und seiner kleinen Tochter verbrachte er jede Minute seiner Freizeit, seine Frau hatte wegen ihm ihren Beruf als Möbeldesignerin aufgegeben. Für manche Kollegen war er ein Schnösel und Karrierist, der sich zudem unangemessen kleidete, nämlich teuer und auffällig. Ich beneidete ihn um seine Garderobe. Nein, ich beneidete ihn natürlich nicht. Thon erschien mir bloß nicht auffällig, ganz gleich, wie viel er in seine Anzüge investierte. Letztes Jahr hatte Martin vorgeschlagen, wir sollten im Fasching als Thon gehen, mit Seidentuch, Seidensocken, Seidenhosen, Seidenhemden. Wir kamen wieder davon ab, weil uns einfiel, wir sähen dann aus wie Rosen-Fritze, ein Metzgerssohn aus Burghausen, der es zuerst in Rosenheim und dann in München zum Zuhälter gebracht hatte. Was er lange nicht mitkriegte, war, dass er im Milieu eine einzige Lachnummer darstellte und von den Kollegen im Dezernat Gamaschen-Columbo genannt wurde. Soweit ich wusste, hatten seine Eltern ihn dann aber in ordentlicher Kleidung auf dem katholischen Friedhof von Burghausen beerdigen lassen. Ich fuhr mit der Straßenbahn zu Lotte Grauke. Thon war sinnlos wütend deswegen.
Wie bei meinem ersten Besuch trug sie ein schwarzes Kleid mit weißem Spitzenkragen. Keine Straßenschuhe, sondern gefütterte braune Pantoffeln, die nicht im Geringsten zum Kleid passten.
Ihre Augen waren verquollen. In der rechten Hand knüllte sie ein Taschentuch zusammen, das sie nicht losließ.
»Ich wollt Sie wirklich anrufen«, sagte sie. Auf den ersten Blick war mir nicht klar, was sie getan hatte, bevor ich kam. Wir setzten uns, sie auf die Couch, ich auf einen Stuhl. Dann sahen wir uns an, bis sie den Kopf senkte. Und ich schaute zum Schrank, dessen eine Glastür halb offen stand. Sämtliche Fächer waren leer, keine Gläser, keine Tassen, kein Geschirr, nichts. Sie hatte den Schrank komplett ausgeräumt.
»Was war der Grund gewesen, weswegen sich Ihr Mann vor sechs Jahren umbringen wollte?«, sagte ich.
Sie brauchte lange für ihre Antwort. Sie sagte: »Das wollte er nicht.«
»Ich hab mit dem Menschen gesprochen, der es verhindert hat.«
»Ja«, sagte sie, hob die Hand mit dem Taschentuch und ließ sie wieder sinken. »Ja… Aber er hat es nicht getan. Er hat es angekündigt, aber dann hat er es nicht getan.«
»Warum wollte er das tun, Frau Grauke?«
Sie vermied es, mir in die Augen zu sehen. Ich stand auf und ging zum Schrank. Ohne um Erlaubnis zu fragen, öffnete ich die beiden Glastüren. Es roch nach Politur. Dann schloss ich die Türen und sperrte mit dem kleinen Schlüssel, der im Schloss steckte, ab. Ich wartete. Verschränkte die Arme, sah auf die Frau hinunter, die zusammengesunken auf der Couch saß, die Faust mit dem Taschentuch unter der anderen Hand versteckt, von ihrem eigenen Schweigen überfordert.
»Ihrer Schwester gab er ebenso die Schuld wie Ihnen«, sagte ich.
»Ja… Ja…« Während sie nach dem nächsten Wort suchte, nach dem nächsten Satz, der vielleicht den Damm brach und sie endlich erleichterte, machte ich eine Beobachtung, für die es keine sichtbaren Anzeichen gab. Von einem Moment zum anderen hatte ich den Eindruck, dass in dieser Wohnung überhaupt kein Ehepaar zu Hause war. Ohne dass ich eine Erklärung dafür hatte, kam mir diese Wohnung plötzlich wie der Haushalt eines allein stehenden Menschen vor, und zwar einer allein stehenden Frau. Im Flur, erinnerte ich mich, hingen nur Frauenjacken und Frauenmäntel, die Schuhe, die ich gesehen hatte, gehörten Frauen, und sowohl in der Küche, in der ich gewesen war, als auch im Wohnzimmer deutete nichts auf die Anwesenheit eines Mannes hin. Woran erkannte man die Anwesenheit eines Mannes in einer Wohnung? Kleidungsstücke. Hobbyutensilien. Bestimmte Zeitungen. Getränke. Bierflaschen. In der Werkstatt hatte ich zwei Flaschen gesehen, in der Wohnung keine einzige.
Gerüche? Was ich roch, war nicht Rasierwasser. Oder Schweiß. Oder die Ausdünstungen von Arbeitskleidung. Was ich roch, waren Möbelpolitur und Parfüm. Und doch war dies die Wohnung von Lieselotte und Maximilian Grauke. Seit dreißig
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