Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
des dritten Lebensabschnitts.
Weitere fünfunddreißig Minuten vergingen. Dann kam Paula Trautwein aus dem Haus. Sie bemerkte mich. Ihr Blick fegte die Spatzen vom Bürgersteig. Sie ging in Richtung Innenstadt davon. An der Haustür gab es keine Sprechanlage. Ich klingelte und die Tür summte.
Frau Grauke war genauso erschrocken, wie ich es gehofft hatte.
Jetzt trug sie ein hellblaues einfaches Hauskleid und darüber eine weiße Kochschürze. Sie war barfuß. Ich kam extrem ungelegen. Sie gab keine Vorstellung, die Bühne war leer, das Geschirr abgeräumt, abgespült, die Schauspielerin ungeschminkt. Und sie hatte Schwierigkeiten mit dem Text.
»Was wollen Sie?«, fragte sie.
Ich sagte: »Die Leute im Viertel machen sich Sorgen.«
»Ich… ich auch… natürlich.«
Wir standen im Flur, der nach Lorbeer roch.
»Kommen Sie mit rüber!«, sagte sie.
»Ich möchte lieber hier bleiben.«
»Was?«
»Wir stehen einfach hier bei der Tür, das ist ein angenehmer Platz.«
»Ich will mich hinsetzen.«
»Wenn ich weg bin.«
Ich zog die Lederjacke an, weil ich sie nicht halten wollte, und verschränkte die Arme. Ich stand seitlich zur Tür und sog den Duft ein. Auch Frau Graukes Parfüm hing in der Luft, sie hatte sich frisch eingesprüht.
»Gehen Sie aus?«, sagte ich.
»Nein, ich bin… ich geh doch nicht aus, wohin denn? Was wollen Sie von mir?«
»Ich bin der Ihnen zugeteilte Polizist.«
»Wie bitte?«
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah mir in die Augen, weil sie dachte, ich hätte einen Witz gemacht. Ich verzog aber keine Miene. Vielleicht hätte ich schmunzeln sollen. Aber schmunzeln konnte ich nicht. Dieses Gen war leer bei mir.
»Ihr Mann war schon einmal verschwunden«, sagte ich. Sie sagte nichts. Dann wischte sie sich die Hände an der Schürze ab. Das war eine schöne Geste. Sie hatte schmale Finger, kurz geschnittene Nägel, weiße Halbmonde, runde Knöchel, ihre Hände wirkten weich und zugleich energisch. Berührt hatte ich sie bisher nicht. Vielleicht hielt sie nichts davon, den Leuten zur Begrüßung oder zum Abschied die Hand zu geben.
»Das ist… fünf Jahre her«, sagte sie.
»Sechs«, sagte ich.
Wir schwiegen beide. In ihrem Kopf rasselten wahrscheinlich die Worte, zerrten von innen an ihrer Stirn, die sich verschob, runzelig wurde, glättete, wieder verzerrte. Während ich darüber nachdachte, ob ich mich nicht doch mitten in einer Hupfauf-Vermissung befand.
»Ich dachte…«, sagte sie und senkte den Kopf, »ich dachte, die werden… die Daten werden gelöscht. Das ist mir damals gesagt worden…«
»Sie verschwinden aus dem LKA-Computer, aber wir bewahren sie auf, für alle Fälle, niemand benutzt die Daten, nach zehn Jahren verschwinden sie.«
»Ist das gesetzlich?«, sagte sie.
»Vermutlich«, sagte ich.
»Das müssen Sie aber wissen! Sie sind doch Staatsbeamter.«
»Sie hatten Angst, Ihr Mann würde sich umbringen.«
»Ja!«, sagte sie und wandte sich in Richtung Wohnzimmer. Ich versperrte ihr in dem engen Flur den Weg. Im ersten Moment wollte sie mich zur Seite schieben, sie hob schon die Hand. Dann änderte sie ihren Plan.
»Ja«, sagte sie, »ich hab mir Sorgen gemacht… In der Werkstatt liefs nicht gut, Maximilian fing an zu trinken… er… er blieb über Nacht unten… er sperrte sich ein, er redete mit niemand, und wenn er was sagte, dann nur: Ich halts nicht mehr aus, Scheißleben, ich spring in die Isar, solches Zeug. Und dann war er weg. Und wir sind in Panik geraten…«
»Ihre Schwester und Sie.«
»Ja natürlich…« Sie stockte. Strich wieder mit beiden Händen über die Schürze. »Wir sind sofort zur Polizei. Aber nach vier Tagen war er wieder da, Gott sei Dank, er hat sich rumgetrieben. Wo er war, wissen wir bis heut nicht. Jedenfalls hat er sich nicht umgebracht, das passt auch gar nicht zu ihm.«
Ich überlegte, zu wem ein Suizid passte.
»Wieso sagen Sie nichts?«, sagte sie. Langsam wurde sie ungeduldig, zornig. Wahrscheinlich nicht nur wegen mir. Sondern weil ihre Schwester nicht da war. Nicht zurückkam und die Vorstellung wieder in die richtigen Bahnen lenkte.
»Frau Grauke«, sagte ich. Sie trat einen Schritt zurück, stemmte die Hände in die Hüften und kniff die Augen zusammen. »Abhauen ist nicht strafbar. Und ich muss auch nicht alles wissen, was bei Ihnen passiert. Das geht mich nichts an, Sie können mir erzählen, was Sie wollen, ich hör Ihnen zu, das ist mein Beruf. Sie lügen mich an und das dürfen Sie. Sie haben Ihren Mann
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