Süden und das grüne Haar des Todes
auf diesem Gebiet – nicht einmal hätte beschreiben können, nur in Umrissen, nur mit Hilfe meiner Phantasie oder in den Zornesfarben meiner Jugend. Das Gesicht eines Mannes, der von einem Tag auf den anderen verschwunden war und den ich daraufhin für tot erklärt hatte, über viele Jahre hinweg, mit wechselnden Begründungen .
Einmal war er der Malaria in Afrika zum Opfer gefallen, einmal von einem Straßenräuber in Brasilien ermordet worden, einmal in den Bergen verunglückt, ohne dass man bis heute seine Leiche gefunden hätte. Und dabei lebte er vielleicht noch, er war bloß immer noch verschwunden, und ich hatte immer noch nicht verstanden, wieso. Ich arbeitete auf der Vermisstenstelle der Kriminalpolizei und konnte meinen eigenen Vater nicht finden, der an einem Sonntag, als ich sechzehn Jahre alt war, unsere Wohnung in Taging verlassen und nichts weiter zurückgelassen hatte als einen kurzen Brief, seine braune Lederjacke und den Geruch nach Rasierwasser.
Und weil ich sein Verschwinden und die Tatsache, dass er unauffindbar blieb, schwerer ertrug als die Vorstellung, er wäre gestorben, nistete ich mich in dieser Legende ein, aus der ich mich erst durch meine Arbeit im Dezernat 11 halbwegs befreite.
»Ihre Frau«, sagte ich, »hat an den Tod ihrer Schwester nie wirklich geglaubt. Und als sie jetzt das Bild in der Zeitung gesehen hat, reagierte sie so spontan, dass sie ihre eigene Lüge vergessen hat. Deswegen, Herr Bregenz, steht Ihre Tochter ziemlich konsterniert in der Küche.«
Der dürre Mann in der Trainingshose lag auf der Couch, die Füße mit den grauen Socken auf der Armlehne, und starrte an die Decke. Sein linker Arm hing schlaff herab, die rechte Hand hatte er unter seinem Hintern vergraben .
Sein ausgemergelter Körper zuckte .
»Sie wissen doch, dass Ihre Frau eine Schwester hat.« Ich stand schräg vor ihm und sah auf ihn hinunter. Er hatte mich noch keines Blickes gewürdigt. Auch auf mein Klopfen hin hatte er nicht reagiert, ich war eingetreten und musste mich erst orientieren. Durch die geschlossenen bodenlangen Vorhänge drang kaum Licht herein, und die Couch war von einer quer stehenden Kommode halb verdeckt.
»Darf ich den Vorhang ein Stück aufziehen?«, sagte ich.
Bregenz gab ein heiseres Ja von sich .
Der Stoff fühlte sich rau und schwer an. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Bregenz hob die Schultern und blickte zum Fenster, eine Zeit lang, bis er den Kopf nach hinten fallen ließ und stöhnte .
»Ists Ihnen zu hell?«
Er reagierte nicht.
»Kannten Sie die Schwester Ihrer Frau?«
Neben der Couch stand ein wuchtiger Sessel. Ich setzte mich und versank.
»Sie haben Übergewicht«, brummte eine Stimme .
»Unbedingt«, sagte ich.
»Cholesterin?«
»Müsste ich überprüfen lassen.«
»Gehen Sie nicht zur Vorsorge?«, sagte Bregenz zur Zimmerdecke hinauf .
»Selten.«
»Sind die Leute früher auch nicht.« Sein Atem ging schwer, und das Zittern nahm zu. »Die kamen zu uns in die Apotheke, wir gaben ihnen die richtigen Medikamente, und sie wurden steinalt.« Nach mehreren Atemzügen mit offenem Mund sagte er: »Heute können sie sich das nicht mehr leisten. Alles zu teuer. In den letzten zwei Monaten haben sechzig Apotheken in der Stadt geschlossen. Und warum?« Keuchend hob er den Kopf, sah mich aus stumpfen Augen an und lehnte sich wieder: zurück. »Die Kassen zahlen nicht mehr. Nicht mal mehr die apothekenpflichtigen Sachen, nichts mehr. Nichts . Wir haben vor zehn Jahren aufgehört. Rechtzeitig.«
Er drehte den Kopf zu mir. Sein linker Arm hing unbeweglich zu Boden, seine Hand lag starr auf dem Teppich .
Ab und zu klatschte eine Regenböe gegen das Fenster.
Mach einem Schweigen sagte ich: »Wann haben Sie die Schwester Ihrer Frau zum letzten Mal gesehen?«
Als müsse er keinen Moment darüber nachdenken, sagte Max Bregenz: »Weihnachten dreiundvierzig. Ich war da, die beiden Mädchen und ihre Mutter.« Seine auf dem Teppich ruhende Hand zuckte. Mit vor Anstrengung verkniffenem Mund hob er den Arm, und jeder Zentimeter kostete ihn unübersehbar viel Kraft. Er knickte den Arm ab, verharrte und ließ die Hand auf seinen Bauch plumpsen. Dann schnaufte er und bewegte abwechselnd das rechte und das linke Bein. »Es hat Kohlsuppe mit Kartoffeln gegeben«, sagte er und brummte eigenartig. »Oder Kartoffelsuppe mit Kohl. Jedenfalls haben wir alles aufgegessen. Ist verständlich. Nicht?«
»Unbedingt«, sagte ich.
»Und der Schmarrn-Beni hat auch
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