Süden und das verkehrte Kind
legten ihm Handschellen an, worüber er sich derart lautstark beschwerte, dass mein Vorgesetzter mir eine Nachricht auf dem Schreibtisch hinterließ, ich möge mich nach der Vernehmung von Frau Karge sofort bei ihm melden. Er bat mich, Kolb zu beruhigen und ihn endlich zu vernehmen.
»Und wo ist Martin?«, fragte Volker Thon.
Ich wusste es nicht. Er war nicht aufgetaucht, er hatte nicht angerufen.
»Jemand muss zu ihm fahren und nachsehen«, sagte ich.
»Er kommt sowieso nicht in die Soko.«
»Brauchst du ihn nicht?«
»Natürlich brauch ich ihn!« Thon kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals. Alle drei Minuten erhielt er einen Anruf von Kollegen, die in der Stadt auf Recherche unterwegs waren. Und in einer halben Stunde fand die erste Pressekonferenz im Haus statt, was seine Angespanntheit noch verstärkte. In Thons Augen trieben die meisten Journalisten ein hinterhältiges Spiel und waren nur auf Sensationen und fehlerhaftes Verhalten seiner Mitarbeiter aus.
»Möchten Sie etwas essen?«, fragte ich Torsten Kolb, der neben dem Gummibaum in Webers Büro saß, die Hände auf dem Tisch, mit Handschellen gefesselt.
»Wollen Sie mich verarschen?«, sagte er.
Ich sagte: »Wenn Sie versprechen, sich ruhig zu verhalten, nehme ich Ihnen die Handschellen ab.«
»Los!«
Ich sperrte die Handschellen auf und legte sie auf den Schreibtisch. Weber war nicht im Zimmer.
»Möchten Sie etwas essen?«, sagte ich.
»Ich will hier raus.«
»Noch ein Gespräch, dann sind Sie an der Reihe«, sagte ich und verließ das Büro. Er rief mir etwas hinterher, das ich sofort vergaß.
Im zweiten Stock wartete Erika Haberl an ihrem Laptop auf mich. Dr. Mira Scott hatte auf demselben Stuhl Platz genommen wie Ilona Karge. Ich belehrte sie über ihre Rechte und nahm ihre Personalien auf.
Beginn der Vernehmung: vierzehn Uhr.
»Wurde Nastassja von ihrem Vater sexuell missbraucht?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ja oder nein?«
»Nein. Auf so eine Frage war ich nicht gefasst. Wieso fragen Sie mich so was?«
»Finden Sie die Frage abwegig?«
»In diesem Fall schon.«
»Torsten Kolb hat seine Tochter geschlagen.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Sie sind Kinderärztin und Psychotherapeutin, die Kinder der Familie Kolb sind bei Ihnen in Behandlung.«
»Ja.«
»Sie haben keine Hinweise auf Misshandlungen durch den Vater oder die Mutter?«
»Sexuelle Misshandlungen?«
»Ja.«
»Nein. Ich weiß aber, dass der Mutter manchmal die Hand ausrutscht. Sie hat auch schon mal den Kleiderbügel benutzt.«
»Auch bei Nastassja?«
»Ich würd es nicht ausschließen. Allerdings hat das Mädchen keine schweren Verletzungen davongetragen, die hätt ich bemerkt.«
»Haben Sie mit Frau Kolb darüber gesprochen?«
»Sie hat zugegeben, dass sie manchmal etwas streng ist. Ich hab auch mit den Kindern allein gesprochen, sowohl mit Fabian als auch mit der kleinen Nastassja. Und keiner von beiden hat etwas Negatives über die Mutter gesagt. Sie haben die Schläge eingeräumt, nahmen ihre Mutter aber geradezu in Schutz. Sie sagten, ihre Mutter meine es bestimmt nicht böse.«
»Würden Sie sagen, Fabian ist eine Art Beschützer für seine kleine Schwester?«
»Ja, er liebt sie, er nimmt sie bei der Hand, führt sie über die Straße, streichelt ihr Gesicht, die beiden haben ein enges Verhältnis. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass der Junge dreizehn ist und sie erst sechs.«
»Was sagen die beiden über ihren Vater?«
»Wenig. Fabian redet ungern über ihn, und Nastassja reagiert kaum, wenn man sie auf ihren Vater anspricht. Sie geht mit ihm manchmal zum Schwimmen, er holt sie ab und bringt sie auch pünktlich zurück. Aber sonst? Die Eltern sind praktisch getrennt.«
»Leidet die Mutter unter der Trennung?«
»Sie leidet eher unter dem unausgegorenen Zustand. Ich bin sicher, sie hätte ihr Leben besser im Griff, wenn sie geschieden wären. Aber da ist nichts zu machen. Ich hab mal versucht, mit ihr darüber zu sprechen. Ausweglos. Sie will sich nicht scheiden lassen, sie sagt, die Kinder brauchen ihren Vater. Ich hab ihr erklärt, den hätten sie auch nach einer Scheidung, auf die eine oder andere Art, auf jeden Fall würden sie ihn nicht weniger sehen als jetzt. Keine Chance. Lieber lässt sie sich mies behandeln und macht alles alleine, die Erziehung, die Schule, alles.«
»Meine Kollegen nehmen Kontakt mit allen Verwandten der Familie auf, mit den Freunden, Großeltern, Mitschülern, Nachbarn, mit allen möglichen Bezugspersonen.
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