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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Praxis eines Urologen warst?«
    »Ich würde gern einen Saft trinken«, sagte ich.
    »Ich nicht«, sagte Martin.
    »Wir haben gestern so viel Bier getrunken«, sagte ich.
    »Ich nicht.«
    »Du auch.«
    »Entschuldigen Sie«, sagte jemand.
    »Warst du noch bei Lilo?«, fragte ich Martin.
    »Geht dich das was an?«, blaffte er. Dann wandte er sich um und ging zu der grünen Holzbude, in der das Bier ausgeschenkt wurde. Gestern, im Nockherberg-Biergarten, gemeinsam mit Sonja und ihm, hatte ich zweieinhalb Maß getrunken, er drei, Sonja eineinhalb. Und bevor wir gegangen waren, hatte jeder in der Gaststube noch zwei Averna auf Eis getrunken, Sonja wollte nur einen trinken, aber Martin meinte zu Recht, nur Flamingos könnten auf einem Bein gut stehen. Wir hatten kaum etwas gegessen, es war immer noch vierundzwanzig Grad warm, und wir waren angetrunken gewesen, ein Zustand, vor dem sich Martin ekelte. Entweder er trank oder er trank nicht, und wenn er trank, hörte er nicht nach drei Litern Bier und zwei unwesentlichen Schnäpsen damit auf. Er verabscheute dieses Halbbewusstsein, diese geteilte Wirklichkeit aus echter Wahrnehmung und rauschhafter Halluzination, er trank nicht, damit es ihm leichter fiel zu leben, zu reden, sich zu entspannen oder aus bloßer Gewohnheit, er trank, um ein Anderer zu werden, von dem er hinterher nichts wusste. Betrunken existierte er in einer schwarzen Enklave, wo er in Geborgenheit schwelgte, in Lilos Umarmungen hinter den abgedunkelten Fenstern ihrer Hurenwohnung oder in den menschenleeren Lokalen der Nacht. Dort, umfangen von Haut oder von abgestandenem Rauch, von freundlichem Atem oder von gleichgültigem Keuchen, bildete er sich ein, bleiben zu dürfen, bis es Zeit war zu sterben, ohne Vergebung und Reue. Irgendwann, zu einer Zeit, in der ich nicht aufpasste, kehrte er aus seinen Verliesen nicht mehr zurück, und ich merkte es lange nicht, ich hielt ihn weiter für den Herrn Hauptkommissar, der seine Arbeit so gut erledigte wie ich, und ich sah ihn dünner und grauer werden und dachte tatsächlich, er brauche nur Urlaub oder eine schöne Partnerin.
    Vom Ausschank in der grünen Holzbude bewegte er sich erst gar nicht weg, er trank das Halbliterglas in zwei Schlucken leer.
    »Entschuldigen Sie«, sagte wieder jemand, und ich erinnerte mich an das erste Mal und drehte mich halb zur Seite. Es war wie eine Erscheinung, wie ein schrecklicher Zeitsprung. Vor mir stand Martin Heuer im Alter von fünfundsiebzig Jahren.
    »Mir ist was eingefallen«, sagte der dürre alte Mann mit dem knochigen Gesicht, den aufgequollenen Tränensäcken und dem graubraunen Haarkranz auf dem schweißnassen Kopf. Er hatte einen braunen, fusseligen Pullover, eine schwarze, ausgefranste Hose und Sandalen an und hielt einen Baumwollbeutel zusammengerollt in den Händen.
    »Ja?«, sagte ich und sah ihm in die Augen, die grau und wässrig waren.
    »Den Mann hab ich gesehen, kann sein, auf dem Foto den.«
    Ich nahm das Bild aus der Hemdtasche und zeigte es ihm. »Diesen Mann?«
    Er tippte auf das Papier. »Der ist da gestanden, vorn, und ich bin… hab den nicht gesehen, bin reingerennt in den, unabsichtlich!«
    »Wie heißen Sie?«, sagte ich.
    »Ich bin der Franze.«
    »Mein Name ist Tabor Süden.«
    »Da vorn«, sagte Franze und hob beide Arme, deutete mit dem verschmutzten Beutel in Richtung einer Metzgerei.
    »Wir gehen hin«, sagte ich.
    Wortlos, geduckt, den Beutel an den Bauch gepresst , führte er mich zu der Stelle, unmittelbar neben dem dreistrahligen Brunnen mit der bronzenen Elise Aulinger.
    »Da, ich bin von da gekommen, er ist da gestanden, ich hab nicht aufgepasst, er hat mich angeschaut, weil er erschrocken ist, ich auch, saudumm, schaut und dann geht er. Dahin. Ich hab den aus Versehen angerempelt, den Mann.«
    Nach Franzes Angaben hatte Korbinian die Straße, die am Markt entlangführte, zwischen Schlemmermeyer und Müller überquert und war entweder die leichte Anhöhe zu St. Peter hinauf oder nach rechts weiter ins Tal gegangen.
    »Ich hab nicht aufgepasst«, sagte Franze. »Er ist da vor, das weiß ich sicher, ziemlich sicher, und ich bin dann auch weiter, er ist da gestanden, da, wo wir jetzt stehen, genau da, und hat geschaut. Ich glaub da rüber.«
    »Zur Straße hin«, sagte ich. »Wissen Sie noch, was der Mann angehabt hat?«
    »Kann ich mich nicht erinnern.«
    »Hatte er ein blaues Hemd an?«
    Franze runzelte die Stirn und starrte das Kopfsteinpflaster an, mit offenbar geradezu zorniger

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