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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sagte ich.
    Olga Korbinian nickte. Jede ihrer Bewegungen und Gesten und Bemerkungen wurde begleitet von einem über die Maßen müden und erschöpften Blick, vielleicht ertrug sie es schon nicht mehr, zur Tür zu starren und nachts an die Decke und die Wände, die Dinge zu sehen, die ihr nicht allein gehörten, die Zimmer zu durchqueren wie verlassene Ländereien, ins Leere zu horchen, und immer wieder vor den Fotos stehen bleiben zu müssen und dem Gesicht nicht zu entrinnen, dem schwarzweißen Gesicht aus Papier.
    Nach einer langen Zeit sagte sie: »Dann ist ihm also nichts zugestoßen.«
    Und ich dachte sofort: Falsch, das Gegenteil muss man vermuten. Und ich sagte: »Ja.«
    »Ach«, sagte sie und erhob sich, »ich hol Ihnen was zu trinken.«
    »Nein«, sagte ich, »bleiben Sie bitte sitzen.« Ich wartete , bis sie sich wieder gesetzt hatte. »Ich habe mit dem Urologen Ihres Mannes gesprochen.«
    »Wegen der Probleme«, sagte sie.
    »Sie wissen es.«
    »Ich weiß, dass wir nicht mehr zusammen schlafen.«
    »Seit wann?«, sagte ich. Und bevor sie antwortete, fügte ich hinzu: »Vielleicht muss ich das nicht wissen.«
    »Seit mindestens einem Jahr«, sagte sie. »Ich weiß nicht mehr genau.«
    »Leiden Sie darunter?«
    »Kommt vor«, sagte sie.
    »Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?«
    »Er spricht nicht darüber, er hat es mir gesagt, mehr nicht. Ich will ihn auch nicht quälen.«
    Sie beugte sich vor, strich mit dem Finger behutsam über die Decke. »Die Frau, wie heißt die?«
    Ich wiederholte den Namen.
    »Woher kennt er sie?«
    »Von der Arbeit«, sagte ich vage. Etwas hinderte mich, die Wahrheit zu sagen, die in diesem Fall reichlich unspektakulär war. Vielleicht zweifelte ich plötzlich zu viel.
    Vielleicht fürchtete ich in dieser abgedunkelten Wohnung der Wahrheit so nahe zu sein, dass ich sie nicht erkannte. Vielleicht sollte ich endlich aufhören, der Ehefrau bedingungslos zu vertrauen und einem Phantom mit Strohhut hinterherzulaufen, dessen Schicksal womöglich längst entschieden war.
    »Haben Sie eine beste Freundin?«, sagte ich. Ausnahmsweise antwortete Olga Korbinian, ohne zu zögern. »Ich hab Bekannte.«
    »Treffen Sie sich oft?«
    »Einmal im Monat«, sagte sie. »Manchmal.«
    »Treffen Sie die Frauen gemeinsam mit Ihrem Mann?«
    »Nein.«
    »Ihr Mann und Sie sind die meiste Zeit unter sich.«
    »Ja.«
    »Was machen Sie, wenn Sie zu zweit sind?«
    »Wir lesen Zeitung, oder sehen fern, oder unterhalten uns.«
    »Auch an den Freitagnachmittagen?«, sagte ich.
    »Da geht mein Mann spazieren«, sagte sie. »Das braucht er.«
    »Wissen Sie, wo er spazieren geht?«
    »Ich spionier ihm nicht nach.«
    »Erzählt er nicht, wo er war?«
    »Meistens geht er an der Isar spazieren.«
    »Allein?«
    »Haben Sie die Frau nicht gefragt, ob sie mitgeht?« Olga Korbinian senkte den Kopf und ließ die Schultern hängen.
    »Wieso ist er denn nicht bei ihr?«, sagte sie mit müder Stimme. »Ich weiß schon, Sie denken, ich weiß was, aber ich weiß nichts, ich weiß nicht, warum er weggegangen ist. Warum denn? Alles, was ich weiß, hab ich Ihnen gesagt. Mehr gibts aus unserem Leben nicht zu berichten.«
    »Seit wann bist du so gutgläubig?«, sagte Martin Heuer.
    »Hör auf, mich wie einen Greis zu behandeln, verflucht!« Ich musste ihn stützen, denn er wankte und knickte ein und schlug mit den Armen um sich. Unter der kalten Dusche ließ ich ihn allein. Nach einer Minute kam er in die Küche, sein dürrer, blasser Körper zitterte, und er keuchte und stöhnte. Es war Sonntagnachmittag, und ich hatte es geschafft, ihn zu überreden, mit zu mir zu kommen. Ich wollte ihn nicht länger allein in seiner Wohnung lassen , umringt von Bierflaschen, im Gestank von Zigaretten und Schweiß, seinem Selbstekel ausgeliefert.
    Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass er mitkommen würde. Wie ich betrat er – als Privatperson – nur höchst ungern fremde Wohnungen, und bei seiner Freundin Lilo blieb er nur, weil sie in dem Zimmer, wo er übernachtete, ansonsten ihre Freier empfing, was den Raum in Martins Augen zu einer Art Büro oder Aufenthaltsraum für Beischlafreisende machte.
    »Du musst die Ehefrau einbestellen«, sagte er, streifte sich ein ungewöhnlich frisch gewaschenes dunkelgrünes T-Shirt über und zog die ausgefranste graue Stoffhose an, die er zu Hause das ganze Jahr über trug.
    Wir tranken Kaffee, Martin rauchte, und wenn man ihn nicht zu intensiv ansah, bemerkte man das leichte Zittern seines

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