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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Stelle, an der ich stand und glaubte, ich würde mein Schauen neu erfinden. Und als könnte ich mich neben den schwarz gekleideten Mann mit dem Zylinder auf die Bank setzen – so verlockend wirkte der Strahl, der auf ihn fiel und sich vor seinen klobigen Schuhen an die Steine schmiegte. Der dickliche Mann, ein Witwer mit einem weißen Tuch in der linken und einem runden Medaillon in der rechten Hand, blickte mit einem Ausdruck vager Hoffnung in den traurigen Augen zwei flanierenden Damen hinterher, von denen die eine halb den Kopf wandte, als wolle sie den stummen Mann im nächsten Moment ansehen. Ich stand zwei Meter schräg vor der Bank und wünschte, die Frau würde das unterdrückte Flehen des Witwers erhören. Doch schon waren die beiden verschwunden. Der Mann wandte den bleichen Kopf mit den geröteten Ohren mir zu, und ich erkannte meinen Kollegen Paul Weber. Und wir sahen uns lange schweigend an. Und dann senkte er den Kopf, und ich wusste, in seiner Nähe hatte ich jetzt keinen Platz. Ich machte einen Bogen um den Lichtteppich vor ihm, ging mit unhörbaren Schritten an den Skulpturen zwischen den Büschen vorüber, und der Geruch nach feuchter Erde und würzigen Gräsern vermischte sich mit dem Duft verwehenden Eau de Colognes. Und ohne mich noch einmal umzuwenden, bemerkte ich, wie Weber den Zylinder abnahm und sich mit dem großen weißen Tuch den Kopf abtupfte.
    »Sie verderben sich die Augen!«, sagte jemand, und ich wich von dem Bild oder aus dem Bild zurück, das wie so viele andere in dieser Ausstellung eine Seitenlänge von nicht mehr als sechzig Zentimetern hatte.
    Er saß noch da, der schwarz gekleidete Mann mit dem Medaillon in der Hand, und die eine der beiden Damen, jene, die ein rosafarbenes Kleid und ein cremefarbenes Tuch trug, wandte halb den Kopf, wie es nie anders sein durfte.
    »Ich hab Sie beobachtet«, sagte Gerlinde Falter. »Sie stehen seit zehn Minuten vor diesem einen Bild.«
    Ich sagte: »Hat Herr Korbinian ein Lieblingsbild?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Sie schwindeln«, sagte ich.
    Carl Spitzweg hätte kein passenderes Rot für ihre Wangen finden können.
    Das Staunen trug einen dunklen Hosenanzug mit einem silbernen Delfin als Brosche. Mit einem kurzen Halt auf jeder Stufe stiegen Nero und ich die Treppe hinunter, und ich sah mich nicht um. Als wir das Parterre erreichten, keuchte der Hund, und ich wartete neben ihm. Von oben rief das ausgehfertige Staunen: »Wenn er nicht mehr will, kehren Sie einfach um!«
    Vor der Haustür hielt Nero mit zuckenden Beinen inne und tapste dann nach links und blieb an der Kreuzung stehen. In der Hoffnung, ihn zu einer Reaktion zu bewegen, zog ich an der Leine, und er trippelte wahrhaftig schnurstracks über die Kundigundenstraße. Vermutlich kam sein Frauchen, perplex wie sie war, zu spät zu ihrem Cateringtermin. Zuerst hatte sie meinen Vorschlag, mit ihrem blinden Hund einen Spaziergang zu unternehmen, für rührend gehalten, und sie fragte mich, ob ich vergessen hätte, dass er mit niemandem die Wohnung verlasse, auch nicht mit ihr, ausgenommen mit Cölestin Korbinian. Nachdem ich mich auf den Boden gesetzt und meine Hand vor die Schnauze des Hundes gehalten hatte, schnüffelte er zunächst daran und trollte sich dann auf seine Decke, und es sah aus, als würde er jeden Moment seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Schlafen. Ich kauerte vor ihm und kraulte seinen Kopf. Ein einziges Ruckeln und Zucken durchlief seinen mageren Körper, sein Fell vibrierte unaufhörlich, und er lag da, scheinbar entspannt, fast gelangweilt, ließ sich streicheln und gab keinen Laut von sich. Sie sei in Eile, sagte Annegret Marin und leckte sich die Lippen, die sie gerade geschminkt hatte, es sei ja fürsorglich von mir, mich mit Nero zu beschäftigen, und sie selbst habe auch schon überlegt, ob der Hund womöglich etwas über Cölestins Verschwinden wisse, sofern ein Hund eben so etwas wissen könne. Und noch dazu ein blinder, fügte ich hinzu, was sie gemein fand. Trotzdem: Wie ich denn auf die Idee gekommen sei, ausgerechnet über Nero eine Spur zu Cölestin zu finden, und ob mein Vorgesetzter das nicht extrem merkwürdig finden würde, wenn ich bei meinen polizeilichen Ermittlungen auf die Mithilfe eines Hundes, der noch dazu definitiv kein Spürhund sei, angewiesen sei.
    Ich erklärte ihr, mein Vorgesetzter wisse nichts davon, heute Nacht hätten mein Kollege Martin Heuer und ich uns eine Geschichte aus unserer Kindheit erzählt, und danach sei ich

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