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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hatten, durchquerten wir ein scheinbar unbewohntes Gebiet, kein Passant, der uns entgegenkam, kein Auto, das vorbeifuhr, niemand an einem Fenster, kein Gast saß im Biergarten des »Brunnenwirt«. Es war später Vormittag und vielleicht waren alle Bewohner des Viertels in der Arbeit oder im Urlaub oder mit dem Haushalt beschäftigt, jedenfalls brachte mich der Zeitungsleser in seiner grünen Strickjacke, einen zerknitterten Stoffhut auf dem Kopf und eine Zigarette zwischen den Fingern, dazu, stehen zu bleiben.
    Auch Nero hielt wie erstarrt in seinem Trippeln inne.
    Der Mann schien mich nicht zu bemerken. Ins Lesen vertieft, blätterte er um, zog an der Zigarette und hob nur abrupt den Kopf, als eine Frau mit einer blauen Schürze über den Shorts aus dem Haus trat und einen Wäschekorb in den hinteren Teil des verwinkelten, dicht bepflanzten Gartens trug. Auf einer Steinplatte neben dem Eingang stand ein Holztrog mit einer Agave, deren geschwungene Blätter an den Spitzen bräunlich ausfransten. Das Rascheln der Seiten beim Umblättern war das einzige Geräusch, das ich wahrnahm.
    Minutenlang stand ich vor dem Gatterzaun, mit zeitferner Gelassenheit, sah dem Mann, dessen Alter ich nicht schätzen konnte, beim Lesen zu, und aus einem unerklärbaren Grund wusste ich, er würde mich nicht ansprechen oder sich durch meine Anwesenheit auch nur gestört fühlen. Die Frau, die die Wäsche aufhängte, kam nicht zurück. Dann spürte ich einen Ruck an der Hand, mit der ich die Leine hielt, wandte mich ab und folgte Nero, der nach Hause wollte. Hinter mir hörte ich das Rascheln der Zeitung.
    In der Wohnung füllte ich die rote Plastikschale mit kaltem Wasser. Nero trank sie leer, und ich füllte sie erneut. Nur eine halbe Minute nachdem er sich auf seine Decke gelegt hatte, schlief er ein. Ich streichelte seinen knochigen, struppigen Kopf, wartete noch eine Zeit lang auf nichts und verließ das Haus mit der hellgrauen Fassade und dem von Efeu überwachsenen Eingang. Von einer Telefonzelle aus rief ich Sonja Feyerabend an.
    »Das ist doch nicht wahr!«, sagte sie.
    Nicht nur, weil sie grundsätzlich ein gestörtes Verhältnis zu Hunden hatte, hörte sie mir mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verachtung zu, verzog das Gesicht, als verursache ihr mein Bericht körperliche Pein, und erwog aus einer ununterdrückbaren Anwandlung von Ekel, mich im letzten Moment doch nicht in die Ausstellung zu begleiten.
    »Und du hast diesen Köter auch noch gestreichelt?«, sagte sie.
    »Unbedingt«, sagte ich.
    Vorher hatte sie gefragt: »Und du bist zweieinhalb Stunden mit einem kranken, blinden Hund spazieren gegangen, während deiner Dienststunden?«
    »Ich war im Dienst«, hatte ich gesagt.
    »Zweieinhalb Stunden?«, wiederholte sie, als wäre sie in der Zeitkantine zuständig für die Verteilung von Stunden, und ich hätte mich unerlaubterweise aus der Vitrine bedient.
    »Schneller ging es nicht«, sagte ich.
    »Das ist doch Wahnsinn«, sagte sie. Da gingen wir bereits durch die Vorhalle, und ich kaufte bei einer Kollegin von Gerlinde Falter zwei Karten.
    »Der Hund ist in gewisser Weise ein Zeuge«, sagte ich. Sonja beugte sich nah zu einem der Gemälde hin und schüttelte den Kopf.
    »In welcher Weise?«, sagte sie mit hämischem Unterton. An ihrer Laune war nicht nur ich schuld, die Bilder gefielen ihr nicht, außerdem drohte ihr an ihrem heutigen freien Nachmittag wieder einmal ein Grundsatzgespräch mit ihrer Mutter, vor dem sie bloß vorübergehend dank meiner Einladung in die Spitzwegausstellung geflüchtet war. Natürlich dachte sie ständig an diese unvermeidliche Auseinandersetzung, aber mein Bericht regte sie nicht weniger auf.
    »Hast du ein Protokoll mit ihm gemacht?«, sagte sie. Nicht einmal die komischen Motive mit den strickenden , gähnenden, gelangweilten Soldaten oder den skurrilen , verschrobenen, rotnasigen Einzelgängern konnten sie aufheitern.
    »Ich wollte wissen, welche Wege Cölestin Korbinian gegangen ist«, sagte ich.
    Sonja sah sich um, als suche sie ein bestimmtes Bild.
    »Das hast du mir schon erklärt. Und? Hat der Köter die Spur gewittert?«
    »Vielleicht«, sagte ich.
    Wir gingen in den nächsten Raum, der unter dem Motto stand: »Der glückliche Winkel«. Nach dem Spaziergang mit Nero hatte ich mir vorgestellt, ich könnte etwas von dem, was ich gesehen hatte, auf einem der Gemälde wiederfinden, bevor ich anfing zu überlegen, was ich überhaupt gesehen hatte. Ich wusste es nicht mehr.

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