Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
jemanden, der sich plötzlich neben ihn gesetzt hatte. »Servus!«
»Servus«, sagte Martin sofort. »Ich heiß Martin.«
»Heuer«, sagte Niko. »Was machst du hier?«
»Besuch meine Eltern.«
Mit einem Ruck drehte Niko den Kopf zu mir. »Und du? Besuchst du auch deine Eltern?«
»Ja«, sagte ich. »Meine Mutter wäre gestern siebzig geworden, ich habe ihr Grab besucht.«
»Und der Papa?«, sagte Niko .
»Der ist verschwunden.«
»Wie verschwunden?« Er trank, und etwas wie ein neugieriges Staunen schwamm in seinen Augen .
»Er ist eines Tages weggegangen und nicht wiedergekommen.«
Niko kratzte sich mit dem kleinen Finger im Ohr. Und Zeit verging. »Jetzt mal ohne Schmarrn …« Er bohrte noch einmal den Finger ins Ohr. »Dein Vater ist verschwunden?«
»Ja«, sagte ich.
»Verschwunden.« Er gab ein Keuchen von sich, schmatzte und trank einen Schluck. »Verschwunden? Und wieso suchst du den dann nicht? Du bist doch für Verschwundene zuständig, oder nicht? Ist Verschwundenenfinder und hat einen verschwundenen Vater!« Aus irgendeinem Grund grinste er nicht mich oder Martin, sondern die Wand neben sich an. »Das spricht ja jetzt nicht grad für dich.«
»Nein«, sagte ich.
Mein Schweigen veranlasste ihn, das Glas zu heben und uns zuzuprosten .
»Möge es nützen!«, sagte Martin .
»Was?«, sagte Niko.
»Das Bier«, sagte Martin.
»Möge es nützen!« Niko schüttelte den Kopf und grinste wieder die Wand an. Vielleicht saß jemand an der Schmalseite des Tisches, den wir bloß nicht sahen .
Wir tranken und redeten eine Zeit lang nichts. Aus den Lautsprechern tönten Songs aus den siebziger Jahren, genau dieselben wie damals in Evelins Partykeller .
»Ihr seid wegen der Anna da«, sagte Niko während des Refrains von Love hurts. »Erzählt mir nichts! Was denn sonst? Am Montag ist es ein Jahr her, und ich wars. Hab ich Recht?« Jetzt grinste er mich an, bevor er mit dem Mittelfinger gegen das Glas schnippte. »Ich wars aber nicht.«
»Das glaube ich dir«, sagte ich. »Und wir sind wirklich nicht für den Fall zuständig. Wir wollen nur so mit dir reden.«
»Find ich gut.« Niko hob den Arm. Dann rückte er mit dem Kopf noch weiter zur Seite, um an mir vorbeischauen zu können. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, auf eine Bestellung zu warten. Als er das Glas wieder hinstellte, kippte es um, und ein Rest Bier ergoss sich über den Tisch. Niko verteilte drei Bierdeckel über der kleinen Lache und wischte die Unterseite des Glases an seiner Jeans ab.
»Hast du in letzter Zeit mit unseren Kollegen von der Soko Kontakt gehabt, Niko?«, sagte ich .
Er schüttelte den Kopf und nickte, wie erschrocken, sofort wieder. Anscheinend war Sissi dabei, seine Gestik misszuverstehen. Sehen konnte ich die Wirtin nicht, da ich mit dem Rücken zum Tresen saß .
»Wieso bist ausgerechnet du ins Visier geraten?«, sagte Martin.
Anders als Niko und ich hatte er seine Jacke nicht ausgezogen, er ließ sie zugeknöpft und schwitzte .
»Weil ich sie angelogen hab«, sagte Niko. »Ich war bei meiner Geliebten, wir haben gesoffen, ich bin gefahren, keine Ahnung, wohin, ich weiß nichts mehr. Wir haben die ganze Nacht gesoffen und in der Früh gleich weiter . Auf einmal hat jemand behauptet, ich hätt mit der Anna auf der Straße gesprochen. Eine Zeugin! Ich hab die nie kennen gelernt, die hat mich auch nicht interessiert, weil, ich wars ja nicht. Ich weiß nicht, wen die gesehen hat . Wahrscheinlich war die genauso besoffen wie ich. Ja, endlich!«
Genau wie Niko vorhin, knallte Sissi das Wodkaglas auf den Tisch, Martins und mein Bier stellte sie auf einen Deckel und zog zwei blaue Striche .
»Danke, Maus«, sagte Niko. Sie reagierte nicht darauf.
»Möge es nützen oder auch nicht!«, sagte Niko und hob sein Glas, und wir stießen an.
Allmählich verließ ein Gast nach dem anderen die Kneipe. Und als ich mich umschaute, saß außer uns nur noch ein junges Paar unter dem Fenster auf der anderen Seite des Tresens, eng umschlungen. Beide, das Mädchen und der Junge, waren Anfang zwanzig, er mit langen, dunkelblonden Rastalocken und sie mit raspelkurz geschnittenen schwarzen Haaren. Wenn sie sich nicht küssten, rauchten sie, zumindest in den Momenten, in denen ich sie beobachtete, und strichen sich mit dem Handrücken gegenseitig übers Gesicht. Jim Croces Stimme passte wie bestellt zu ihrer Sanftmut.
… If I could save time in a bottle, the first thing that I’d like to do, is to save every day ’til
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