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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ein.«
    »Nein!«, rief sie. Dabei verschluckte sie sich, presste aber sofort die Lippen aufeinander und unterdrückte ein Husten. Wie du in der Dunkelheit.
    »Sie reden sich ein, Johann würde an Sie denken und Ihnen regelmäßig zum Geburtstag gratulieren, aber das tut er nicht. Vielleicht hat er es noch nie getan.«
    »Doch!«, brachte sie mit gequälter Stimme hervor.
    »Nein«, sagte ich und setzte mich aufs Bett. Sie gab sich einen Ruck, kam aber nicht von der Stelle, sie war zu erschöpft. Auch das Sprechen bereitete ihr Mühe, das Sprechen und das Zuhören, das ich ihr nicht ersparte.
    »Ich war bei Ihrer Mutter, ich habe gehofft, sie würde über Ihre Familie sprechen und mir bei der Suche nach Ihrem Bruder weiterhelfen. Und ich vermute, sie hat mich genauso angelogen wie Sie, ich glaube, Ihr Bruder war bei ihr, und zwar erst kürzlich, und ich darf nicht erfahren, was er wollte. Wissen Sie es? Was haben Sie mit Ihrer Mutter gesprochen? Sie war hier, auch seine ehemalige Freundin war hier, worüber haben Sie geredet? Was hat Ihre Mutter Ihnen erzählt? Frau Ross! Wo ist Ihr Bruder?«
    Ihr Blick fixierte einen Punkt an der leeren Wand. Wie mechanisch rollte sie die Bettdecke Zentimeter für Zentimeter zusammen, unaufhörlich bewegten sich ihre Hände und Unterarme vor und zurück, was sie nicht zu bemerken schien. Obwohl die Daunenrolle immer dicker wurde, machte sie mit starrem Blick weiter, jetzt kamen ihre Füße zum Vorschein und ich sah, dass sie dicke graue Wollsocken trug.
    »Frau Ross!«, sagte ich. »Hören Sie damit auf!«
    Sofort hörte sie auf. Sie ließ die Decke los, streckte die Arme aus und legte die Hände flach aufs Bett. Außer nach Alkohol roch sie nach ungewaschener Kleidung.
    »Was wollte Ihre Mutter von Ihnen?«
    »Nichts.« Sie holte Luft, schluckte, und ihr Atem rasselte. »Sie hat gesagt … wir sollen ihn in Ruhe lassen …«
    »Also weiß sie, wo er ist.«
    »Nein … nein … glaub ich nicht …«
    »Sie haben mit Ihrer Mutter allein gesprochen, was wollte sie von Ihnen?«
    »Nichts«, sagte sie leise.
    Das genügte. Ich sprang auf, packte die Decke, bevor Mathilda die Arme hochbrachte, warf die Decke auf den Boden, griff nach Mathildas Händen, trat zwei Schritte zurück und zog deine Tante aus dem Bett. Damit sie sich nicht fallen ließ, schlang ich ihre Arme um mich und stellte sie aufrecht hin wie eine große plumpe Puppe.
    Da stand sie, schwankte und begriff unübersehbar zum ersten Mal seit einer halben Stunde, wo sie sich befand und mit wem.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
    Sie sagte heiser: »Mir ist schwindlig.«
    »Das geht vorbei.«
    »Ich muss mich hinsetzen.«
    »Jetzt nicht«, sagte ich. »Ziehen Sie sich Schuhe an, wir machen einen Spaziergang.«
    »Nein«, sagte sie.
    »Dann passen Sie auf!«
    »Hilfe!«, rief sie. Ich packte sie unter den Achseln und schleifte sie in den Flur. Ich kniete mich vor sie hin, hob ihren rechten Fuß, stülpte den Schuh darüber, band ihn zu, dann machte ich dasselbe mit dem linken Fuß. Mit den dicken Socken hatte sie einen festen Halt in den Schuhen.
    Fünf Minuten später torkelte sie an meinem Arm aus dem Haus.
    Es war ein grauer, kühler Sonntag, kurz vor elf .
    »Wo gehen Sie hin?«, fragte Mathilda.
    »Kommen Sie einfach mit!«, sagte ich .
    »Und wenn mein Bruder in der Zwischenzeit zurückkommt?«
    »Das wäre doch schön«, sagte ich.
     
    Zwischen dem eingezäunten Kinderspielplatz mit der Holzwippe und der Metallrutsche und der Kirche blieben wir stehen, und sie sagte: »Müssen wir da rein?«
     
    Ich schleppte sie weiter, an dem grauen, mit Holzbohlen abgedeckten Steinbrunnen und dem Spielplatz vorbei, und hielt ihr die Tür auf. Aus einem seltsamen Impuls heraus führte ich Mathilda zu den drei Bänken vor der rechten Seitenkapelle. Niemand saß dort oder anderswo in der Kirche. Wir waren allein.
    »Bitte«, sagte ich und deutete auf die hinterste Bank. Sie warf einen schnellen Blick zur Madonna und nahm Platz .
    Ich setzte mich neben sie an den Rand. Minutenlang sprachen wir kein Wort .
    Das weiße Tonnengewölbe mit dem unauffälligen Stuck und den Rosetten an der Decke schien zu strahlen, und das Tageslicht, das draußen trüb und abweisend war, schien sich in der Josephskirche in Helligkeit zu verwandeln. Bei der Renovierung des fast fünfundzwanzig Meter hohen Raumes nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Bauherren auf Prunk verzichtet, abgesehen vom großen, aus vier Teilen bestehenden Altarbild. Ich machte

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