Süden und die Frau mit dem harten Kleid
wieder, und ich blieb stehen. Auf dem Tisch lagen zwei Schreibblocks und ein kleiner Kassettenrecorder.
»Woher hast du gewusst, dass wir hier sind?«, sagte Weber.
Ich sagte: »Eigentlich bin ich nicht wegen euch hier.«
Hinter ihrer kurios geschwungenen Brille mit den dicken Gläsern wirkten Freyas braune Augen geradezu riesig .
»Aber Sie kennen doch das Mädchen!«, sagte sie. »Die Beschreibung passt genau!«
Ich schwieg.
»Das Mädchen, das du in der Bauerstraße im Treppenhaus getroffen hast«, sagte Weber. »Sie ist die Tochter von Frau Woelk. Und Frau Woelk hat ihre Tochter heute als vermisst gemeldet.« Er schaute zu ihr .
Sie stand in der Nähe der Tür, eine dünne Frau in Jeans und Pullover, leicht gebückt, mit einem vom Fahrradunfall gezeichneten Gesicht, das übersät war von dunklen Flecken, Abschürfungen und offensichtlich nur schwer heilenden Wunden. Wenn sie redete, brachte sie den Mund kaum auf, vermutlich hatte sie bei dem Zusammenprall mit dem Lastwagen mehrere Zähne verloren .
An ihrem Unterkiefer klebte ein breites Pflaster .
»Die Tochter«, sagte Weber, »ihr Name ist Liane, Liane Woelk, sie hat den vermissten Maler anscheinend gut gekannt, wir wollten gerade darüber sprechen …«
»Sie ist seine Tochter«, sagte ich.
»Was?«, sagte deine Mutter bestürzt und griff sich an den Kiefer. Einige Sekunden musste sie den Mund geschlossen halten, damit der stechende Schmerz oder was immer Fürchterliches sie spürte, nachließ. »Woher wissen Sie das?«, nuschelte sie. »Das können Sie doch gar nicht wissen!«
Sie kam auf mich zu. Unschlüssig hob sie den Arm, ließ ihn sinken, hob ihn ein zweites Mal und berührte zaghaft das Pflaster an ihrem Kiefer .
»Bitte setzen Sie sich, Frau Woelk«, sagte ich .
Da sie sich nicht von der Stelle rührte, nahm ich sie am Arm und führte sie zur Couch vor dem Fenster .
»Bitte«, sagte ich.
Wie eine alte Frau ging sie mühsam in die Knie, während ich ihren Arm umklammerte, drehte sich halb im Kreis, die Augen geschlossen, tastete nach der Sitzfläche und sank in unendlicher Langsamkeit nach unten. Auch als sie sich hingesetzt hatte, die Beine aneinander gedrückt, keuchend und mit geschlossenen Augen, ließ ich sie nicht los und setzte mich neben sie .
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich .
Sie reagierte nicht.
Vorsichtig nahm ich die Hand von ihrem knochigen Arm. Jetzt öffnete sie die Augen und drehte langsam den Kopf.
»Haben … haben Sie Lili gesehen?«
»Ja«, sagte ich. »Heute Nacht. Wir haben miteinander geredet.«
»Wirklich?«, stieß deine Mutter hervor. Fast schien es, als würde sie von einer winzigen Freude überrumpelt .
»Ja«, sagte ich schnell, doch sie war schon wieder in dem Zustand wie zuvor. »Sie hat mir verraten, dass Johann Farak ihr Vater ist, Sie haben es ihr im Krankenhaus erzählt.«
Dann sprach eine Weile niemand .
»Wo hast du sie getroffen?«, fragte Weber .
Freya, die erst seit wenigen Monaten auf der Vermisstenstelle arbeitete, sah ihren älteren Kollegen ratsuchend an .
Der Recorder war nicht eingeschaltet, und Freya überlegte vermutlich, ob sie mitschreiben solle .
»Im Nymphenburger Park«, sagte ich .
»Wann?«, fragte Weber. Ich sagte es ihm.
»Aber dann …«, sagte Freya unsicher. »Dann ist sie ja gar nicht verschwunden, das ist doch gut, Frau Woelk!«
Deine Mutter hob den Kopf. Und mit der Hand vor dem Mund, sodass wir ihre Worte nur schlecht verstanden, sagte sie: »Seit drei Tagen ist sie nicht nach Hause gekommen … das ist nicht gut, Frau … Wo ist sie?«
Sie wandte sich an mich .
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Diesmal brauchte sie mindestens zwei Minuten, bis sie es schaffte, ihre eisenschweren Lider zu heben .
»Zeitpunkt und Ort der Abgängigkeit«, sagte Paul Weber .
Er sagte es mit ruhiger Stimme, die Arme auf dem Tisch verschränkt, zu deiner Mutter hin gebeugt, die ihm gegenübersaß, die Hände im Schoß, fahl im Gesicht. Vielleicht war auch das Licht schuld, eine merkwürdige Lampe habt ihr im Wohnzimmer, sie erinnerte mich an die Beleuchtung in manchen Pensionen, in denen ich übernachtet hatte. Wenn man dort in den Spiegel sah, glaubte man, einem schlecht geschminkten Double seiner selbst zu begegnen.
Indem er nüchterne Daten abfragte, hoffte Weber, deine Mutter würde sich beruhigen, zumindest für einige Zeit ihren Schmerzkokon abstreifen, womöglich einsehen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte .
Was wusste ich von deiner Mutter?
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