Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Dezernat«, sagte ich .
Weber sagte nichts. Die Leute auf der anderen Straßenseite warteten.
Jeder, was immer er im Leben darstellte, wie wenig Freunde er auch gehabt, wie viele Menschen er verletzt, beleidigt, enttäuscht haben mochte, egal, wie nah er den anderen gewesen war oder wie sehr er andere auf Distanz gehalten hatte – jeder, der plötzlich verschwindet und dessen Vermissung nicht mit einer Totauffindung endet, wird zu einem Schattenmenschen. Solche Wörter benutzen wir in unseren Formularen, es sind erprobte eindeutige Wörter, wir schreiben sie hin, und sie sind unwiderruflich. Wie viele Tränen auch auf sie tropfen mögen, diese Wörter werden niemals glänzen. Es sind schreckliche Wörter, eingehüllt in Dunkelheit .
Ich sah erwachsene Männer in Ohnmacht fallen, deren bester Freund verschwunden war und dann tot aufgefunden wurde. Ich sah in die Gesichter der Mütter, deren Kinder ausgerissen waren und Wochen später als Vergewaltigungsopfer in einem Gebüsch, in einem Wald, in einem verbrannten Fahrzeug entdeckt wurden. Ich sah tausende von entleerten Zimmern, in denen Bilder an der Wand hingen, Schränke, Tische, Betten oder Instrumente standen, Blumen und Pflanzen auf den Fensterbrettern, Bücher in Regalen, Stofftiere auf einer bunten Couch, Zimmer, in denen nie wieder ein Mensch singen oder lachen würde, in die für alle Zeit nur noch zu Hinterbliebenen versteinerte Angehörige hineingingen wie in ein offenes Grab. Ich hörte sie schweigen, weil sie vergessen hatten, in welcher Reihenfolge sie die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets zusammensetzen sollten und zu welchem Zweck. Ich roch das Eau de Cologne, das sie benutzten, damit niemand die Schuldgefühle einatmen musste, die sie in maßlosem Selbstekel ausströmten .
Ich bot ihnen meine polizeiliche Unterstützung an und trumpfte mit technischen Geräten, erfahrenen Sonderkommissionen und ungekünstelter Geduld auf – und blieb am Ende mit meinen Wänden allein. Denn sie hatten alle ihre eigenen Wände, die niemand für sie niederriss, kein Freund, kein Psychologe und niemals ein Polizist. Beim Anblick einer Leiche, die derjenige, der sie identifizieren muss, als lebendiges Wesen zum inneren Kreis seiner Liebe oder wenigstens seiner Zuneigung gezählt hat, endet jegliches Vertrauen. Gott ist dann ein Höllenhund, und wir sind, wenn wir glimpflich davonkommen, bloß armselige feige Lügner. Finden wir jedoch einen Verschwundenen auch nach Wochen und Monaten nicht, fangen die Angehörigen an, mit einem Schattenmenschen zu leben, vielleicht glauben sie, er sei bereits tot, aber dieser Glaube vergrößert ihren Schrecken nur noch. Und je länger sie warten und sich an einem Tag einbilden, sie würden sich täuschen und der Vermisste tauche bald wieder auf, und am nächsten überzeugt sind, er würde nie wiederkehren, desto gewaltiger lastet der abwesende Tod auf ihnen, besonders an Geburtstagen und Feiertagen. Am schlimmsten an Weihnachten. Ich kannte Menschen, die kauften Geschenke für ihren verschwundenen Bruder oder Ehemann, legten sie wie all die Jahre unter den geschmückten Baum und stellten eine Kerze ins Fenster, damit der Heimkehrer das Haus nicht verfehle. Wissen sie nicht, dass man eine Kerze nicht für einen Heimkehrer ins Fenster stellt, sondern für einen Engel? Und Engel sind ebenfalls Schattenwesen, auch wenn sie aus purem Licht bestehen mögen, wie es heißt.
»Warum machen Sie das?«, fragte ich deine Mutter. Und sie sagte: »Damit sie nach Hause findet.«
Du warst gemeint. Für dich brannte die rote Kerze auf dem Fensterbrett in der Küche, und deine Mutter saß auf dem Plastikstuhl am Tisch und trank Leitungswasser. Ich trank Bier, das ich mir aus dem Kühlschrank nehmen durfte.
»Sie kommt wieder«, sagte ich, denn ich bin Polizist und Spezialist für ermunternde Sätze .
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte sie mich .
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
»Warum sagen Sie so was dann?«
Ich schwieg.
Dann trank ich, und sie schaute mir dabei zu. Ich trank aus der Flasche.
»Sie haben lange Haare für einen Polizisten«, sagte sie . »Überhaupt sehen Sie nicht so aus wie die anderen.«
»Welche anderen?«, fragte ich .
Sie schwieg.
»Liane hat ihren Vater schon oft getroffen«, sagte ich. »In seiner Stammkneipe und zu Hause. Oft. Sie sind befreundet. Und sie hat ihm nicht gesagt, dass sie weiß, er ist ihr Vater. Sie hat es ihm verschwiegen.«
Deine Mutter blickte zur Kerze, deren Licht ein
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