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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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los. »Worauf wartest du?«
     
    In ihren durchnässten Socken, die nicht mehr grün, sondern grau waren, ging sie durch den Vorgarten zur Haustür. Richter stand am Tor und wartete. Er trug den Mantel offen und schien die Kälte nicht zu spüren.
    Fanny stieg die Steinstufen hinauf, streckte die Hand nach der Klingel aus und hielt inne. Sie konnte ihren Arm nicht mehr bewegen. Sie schaute ihre Finger an, die auf und ab flatterten, wie die Gliedmaßen eines anderen Menschen. Fasziniert betrachtete sie den schwarzen Ärmel und die schneeweiße Hand. Im nächsten Moment ließ sie den Kopf fallen, weil sie überzeugt war, dass ihre Füße auf der Steinstufe festgefroren waren. Vielleicht starb sie jetzt, dachte sie, und vielleicht ist der Adi dann gerettet.
    Von einer unbekannten Kraft gesteuert, drückte ihr Zeigefinger auf den runden Klingelknopf.
    Im Innern des Hauses hallte ein rasselnder Ton wider. Fanny klingelte noch einmal, ein drittes Mal. Dann ließ sie den Finger auf dem Knopf, und ihr Kopf kippte nach vorn. Mit der Stirn berührte sie das kalte Holz der Tür.
    Im Licht einer Straßenlampe sah Richter vom Bürgersteig aus die schmale, gekrümmt dastehende Gestalt des Mädchens und hatte ihren Namen vergessen. Er wusste auch nicht mehr, wie der Platz hieß, an dem sie sich befanden. Das Haus, das Mädchen, die Umgebung verschwammen vor seinen Augen. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem schmiedeeisernen Gartentor ab. Übelkeit kroch in ihm hoch, wie nach einer dieser elenden Nächte in der Ingolstädter Straße, wenn er auf dem Heimweg im Taxi den Geschmack nach Huren und Schnaps nicht aus dem Mund brachte.
    Wie hieß das Mädchen? Das Rauschen in seinem Kopf raubte ihm jede Konzentration. Er brauchte endlich wieder etwas zu trinken. Und er musste zu seiner Frau in den Bahnhofspuff fahren und ihr zeigen, was gespielt wurde.
    In das Pochen seiner Schläfen mischte sich ein blechernes Klingeln, das nicht aufhörte. Er schwankte, umklammerte die Kante des Eisentors, schwang vor und zurück, sah ein grelles Licht und richtete sich benommen auf.
    Das Licht kam aus dem Hausflur.
    Vor Fanny stand eine Frau Anfang dreißig in einem rosafarbenen Morgenmantel und rosa Hausschuhen mit weißen Bommeln. Die Frau hielt ein Küchenmesser in der Hand.
    »Psst«, machte Fanny und legte ihren Zeigefinger an die Lippen. Der Finger, mit dem sie die ganze Zeit auf die Klingel gedrückt hatte, war kalt wie ein Eiszapfen. »Du darfst nichts sagen, Mama. Der Mann ist ein Mörder, er hat mich entführt …«
    Fannys Mutter sah über ihre Tochter hinweg zum Gartentor, wo der Mann zu ihr herstarrte. »Ich spring ins Haus, und du sperrst die Tür ab. Verstehst du das, Mama?«
    »Ich hol mir den Adi, ihr Schlampen«, schrie Richter und stakste mit eckigen, schnellen Schritten aufs Haus zu.
    »Los, Mama!« Fanny schubste ihre Mutter in den Flur, knallte die Tür hinter sich zu, fuhr herum und drehte den Schlüssel im selben Moment, als Richter gegen die Tür schlug.
    »Ich mach dich kaputt«, brüllte er. »Mach auf oder ich bring euch beide um.«
    Erschrocken, verschlafen und verkatert stand Nora Wiese im Flur, das Messer auf die Tür gerichtet, während Fanny ins dunkle Wohnzimmer lief und nicht lang nach dem Handy ihrer Mutter suchen musste. Es lag auf dem Tisch, zwischen einem von Kippen überfüllten Aschenbecher, zwei Gläsern und einer leeren Flasche Rotwein. Sie tippte 110, und als sich ein Polizist meldete, sagte sie außer Atem: »Überfall Halligenplatz 18, Trudering, meine Mutter und ich werden bedroht, Sie müssen sofort kommen, der Mann hat mich aus dem Zeno-Haus entführt, das ist der!«
    Sie unterbrach die Verbindung, steckte das Handy in die Anoraktasche und bemerkte ihre Mutter im Türrahmen.
    Von draußen schlug Richter weiter gegen die Haustür, ununterbrochen.
    »Was ist denn los, Fanny?« Offensichtlich fiel ihr nicht auf, dass sie das Messer jetzt auf ihre Tochter richtete. Im Flurlicht sah sie alt und grau aus, ihre braunen Haare hingen herunter, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen.
    »Das war gut, dass du so schnell reagiert hast«, sagte Fanny.
    »Wer ist der Mann?«
    »Ein Mörder.«
    »Wen hat er denn umgebracht?«
    »Seinen Sohn.«
    »O Gott.«
    »Mach dir keine Sorgen, er lebt schon noch.«
    »Wie? Er hat ihn nicht umgebracht?«
    »Doch.«
    Aus der Ferne war das Martinshorn der Polizei zu hören. »Ich muss wieder weg«, sagte Fanny. Sie rannte zu ihrer Mutter, schlang die Arme um sie und ließ

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