Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
vergessen.«
Zehn Minuten später traten wir ein paar Blocks entfernt auf der Lenox Avenue durch die Tür von Sylvias Südstaaten-Restaurant.
» Sie haben Glück«, sagte ich zu Emily und deutete auf die Speisekarte, nachdem wir uns in dem gemütlichen Lokal niedergelassen hatten, in dem es nach leckerem Essen roch. » Heute servieren sie sogar Maisgrütze und Blattkohl.«
» Blattkohl? Ach, Gott bewahre«, säuselte Emily in ihrem Südstaatenakzent und wedelte sich mit einem imaginären Fächer Luft zu. » Ich werde nie wieder Hunger haben. Aber ich hätte Sie gar nicht als Soul-Food-Liebhaber eingeschätzt, Mike.«
» Verstehen Sie mich nicht falsch, Parker. Ich verputze sonst mit meinen irischen Brüdern zu einem Sixpack nichts als Kartoffeln. Es war meine Frau, die mich in diese Küche eingeführt hat. Sie war die Feinschmeckerin. Jeden Samstag überredete sie Seamus, auf die Bande aufzupassen, und führte mich in neue Restaurants aus. Oft kamen wir zum Jazz-Brunch hierher.«
Nach ein paar von Silvias butterzarten Rippchen gingen wir den Fall durch.
» Ich denke, die Lage ist im Begriff, sich ein bisschen zu entspannen«, begann Emily. » Der Zeuge war furchtbar, aber allein die Tatsache, dass es einen Zeugen gibt, beweist die Menschlichkeit unseres Entführers, der somit auch zu Fehlern fähig ist. Eine Zeitlang war ich mir nicht sicher. Aber die Leiche in einen Kühlschrank stecken und diesen irgendwo abladen? Das ist … abstrus, oder? Diese Mühe, die er auf sich nimmt.«
» Ja«, stimmte ich zu und wischte mir mit der Serviette über den Mund. » Für diesen Spinner ist das nicht nur ein Job. Es ist ein Abenteuer.«
» Ich frage mich, warum er das macht«, fuhr Emily fort. » Warum tut er so, als handelte es sich um eine Entführung? Er hat kein Lösegeld gefordert. Ich meine, warum nimmt er mit den Familien Kontakt auf, wenn er die Opfer einfach umbringt?«
» Moment«, hielt ich sie auf. » Ich denke, er macht die Sache so dramatisch, wie er kann. Warum machen Psychopathen so was überhaupt? Sie sind in gewisser Hinsicht unzulänglich, halten sich aber für grandios. Sehen Sie sich Oswald an. Oder die Verrückten von Columbine. Sie können nicht auf normalem Weg berühmt werden, also töten sie, um Aufmerksamkeit zu erlangen.«
Emily hielt einen mit Grillsoße überzogenen Finger hoch. » Aber Sie haben mit diesem Typen gesprochen, Mike. Er wirkt gebildet und scheint sich gut artikulieren zu können. Mir kommt er nicht unzulänglich vor.«
Ich zuckte mit den Schultern.
» Dann muss er entstellt sein oder so, weil es sich hierbei keinesfalls um eine Inszenierung und beim Frage-und-Antwort-Spiel nicht um ein getürktes Quiz handelt. Unser kultivierter Freund geilt sich auf.«
» Da haben Sie recht«, stimmte Emily zu.
Ich war schockiert, als Emily bei der Kellnerin einen Jack Daniel’s bestellte.
» Was ist mit der Cola mit vollem Zuckergehalt? Hören Sie dieses Rumpeln? Das ist Hoover, der sich vor Neid in seinem Grab umdreht.«
Emily zwinkerte mir zu. » Was soll ich sagen, Mike? Sie haben mich völlig verdorben. Man hat mich vor den New Yorker Polizisten gewarnt. Ich Dummerchen hätte besser drauf hören sollen.«
Als die Rechnung kam, legte ich meine Kreditkarte darauf.
» Halt. Was tun Sie da?« Emily griff in ihre Handtasche. » Wir teilen die Rechnung. Sie tun ja, als wäre das hier ein Rendezvous.«
» Ach ja?« Ich blickte in ihre Augen, als ich der Kellnerin die Rechnung reichte.
Sie blickte einen sehr langen, sehr angenehmen Moment zurück. Und wurde rot. Nein, nicht sie. Ich.
Mist, was tat ich hier? Ich wusste es nicht. Meine Frau war seit zwei Jahren tot, und gewöhnlich fühlte ich mich unwohl, wenn ich Damenbekanntschaften schloss. Special Agent Emily Parker war anders, vermutete ich.
Oder vielleicht drehte ich nur durch. Ja, das war’s wahrscheinlich.
33
Es war fast neun Uhr abends, als die Schlussbesprechung der Sondereinheit endete und Emily Parker erschöpft in ihrem Hotel eintraf. Sechs Minuten später tauchte sie zufrieden platschend ins hoteleigene Schwimmbecken.
Dieser erste, magische Moment hatte etwas Unvergleichliches. Wie in jedem Becken, in das sie das erste Mal sprang, tauchte sie bis zum kühlen Boden hinab und strich mit der Hand über die raue Oberfläche.
Sie ließ sich im Lotussitz nieder und schloss die Augen. Hier unten gab es keine Sorgen. Keine übellaunigen Chefs. Keinen Stress. Und mit Sicherheit auch keine toten Kinder.
Während ihrer
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