Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
wie eins meiner verliebten Kinder schmachtete. Los, komm zurück in die Realität, Casanova!
Es war meine Chefin, Carol Fleming.
» Mike, ich habe gerade gehört, ein Pressefuzzi aus dem Rathaus sollte im Auftrag der stellvertretenden Bürgermeisterin Kopien von all Ihren Berichten abholen. Haben Sie eine Ahnung, was die im Rathaus damit vorhaben?«
» Leider sind wir mit der Hottinger aneinandergerasselt, als wir bei den Dunnings waren«, erklärte ich. » Wahrscheinlich sucht sie nur nach einem Anlass, mich in die Pfanne zu hauen.«
» Diese magersüchtige Ziege kann sich von mir aus auf den Kopf stellen«, erwiderte meine Chefin wütend. » Interne Polizeiberichte sind streng vertraulich, und wenn sie Informationen will, bekommt sie die nur von mir persönlich. Dieser Fall wird absolut professionell abgewickelt. Machen Sie sich keine Sorgen wegen ihr oder sonst jemandem, solange ich in der Nähe bin. Schlafen Sie ein bisschen, Bennett.«
Wow. Eine Chefin, die Vertrauen in mich hatte und bereit war, um sich zu beißen, um mich zu schützen. Das war neu in meinem Leben.
Aber was war mit Schlaf? Ich verließ die Küche und sah mir den Trümmerhaufen an, der eigentlich mein Esstisch war.
Dort standen Becher, Plastikröhrchen, Stoppuhren und Lebensmittelfarbe. Und die Pappkartons reichten für den Bau eines Leichtflugzeugs.
Richtig, die gefürchtete Jahreszeit hatte wieder begonnen. Die jährliche Wissenschaftsmesse in der Holy Name School.
Sechs meiner zehn Kinder setzten wie Besessene ihre Projekte um. Jane untersuchte Erde aus dem Riverside Park, Eddie die Geometrie von Schatten. Brian arbeitete am Thema Fernsehen und Hirnleistung. Oder schaute er nur Fernsehen, statt seine Arbeit zu machen? War auch möglich.
Selbst meine fünfjährige Chrissy wurde von der Wissenschaftspolizei versklavt. Sie musste aus Klopapierrollen ein Stethoskop basteln. Das Manhattan-Projekt hatte weniger Arbeit gemacht.
Ein Stück Alufolie flog an meinem Kopf vorbei, und ich schnappte es mir.
» Gehört der Ball dir, Trent?«, fragte ich und gab ihn ihm zurück.
» Das ist kein Ball, Dad«, wurde ich mit einem Stöhnen belehrt. » Das ist Jupiter.«
Kaum war ich von der Arbeit nach Hause gekommen, war ich sogleich beauftragt worden, in unserem Schreibwarenladen um die Ecke auf den letzten Drücker einige Dinge zu besorgen. Seit dem Labor Day am 15 . April hatte ich auf dem Postamt nicht mehr so viele durchgeknallt wirkende Menschen gesehen. Waren die Schüler nicht verpflichtet, ihre Experimente selbst durchzuführen? Eigentlich schon.
Zehn Minuten vor Mitternacht verpackte ich die letzten Edisons und Galileos und ging in die Küche.
Mit kleberverschmierten Wangen und markierstiftbefleckten Fingern nahm Mary Catherine an allen Teilen die letzten Korrekturen vor.
» Hey, Mary. Ich wette, du hast im Traum nicht daran gedacht, dass du so tief in die Freuden der Wissenschaft eintauchen könntest. Fühlst du dich im Geist auch so erweitert wie ich?«
» Ich habe eine Idee für ein Experiment, das ich an diesen Wissenschaftsheinis ausprobieren möchte«, sagte sie, während sie einen Pfeifenputzer zu einer Locke drehte. » Wie viel Druck kann ein Mensch aushalten, bevor sein Kopf platzt?«
35
Um zwanzig nach zwei am Morgen verließ Dan Hastings die Hauptbibliothek der Columbia University. Der Student im ersten Semester mit Hauptfach Wirtschaft grinste frech, schaltete, statt den Weg über die Fahrstuhlrampe zu nehmen, seinen iBOT-Rollstuhl in den Treppenmodus und sauste mit dem Ding die massive Steintreppe hinab.
Man sollte doch denken, ich hätte meine Lektion gelernt, dachte er, als der teure, computergesteuerte Rollstuhl von der letzten Stufe hüpfte. Seine Beine waren seit einem Mountainbike-Unfall gelähmt.
Auf einer Extremtour mit seinem Vater im Orkhon-Tal in der Zentralmongolei war er wie der wiedergeborene Dschingis Khan einen steilen Pfad hinuntergeflogen, bis sich das Vorderrad zwischen zwei Felsbrocken verhakt hatte.
Durch den Sturz in die Schlucht waren sein neunter, zehnter und elfter Brustwirbel zertrümmert worden, doch er beschwerte sich nicht. Er hatte noch sein Hirn und sein Herz und, als mongolisches Abschiedsgeschenk, sein Glied, das immer noch voll funktionstüchtig war. Mit seinem iBOT, dem Ferrari unter den Rollstühlen, verwies er diese Angelegenheit an die Stelle, an die sie gehörte – hinter sich. Ihm standen immer noch alle Ziele offen.
Seinen Lernmarathon an diesem Abend verdankte er der
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