Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
der er zuletzt gesehen wurde?«
» Nö«, sagte ich. » Wir fahren lieber zu seiner Familie. Ich denke, unser Freund wird dort anrufen.«
40
Das mitten in Harlem liegende Büro des Wohltätigkeitsvereins New York Heart befand sich auf der 134 th Street an der Ecke der St. Nicholas Avenue. Der saure Geruch nach Schweiß und Marihuana weckte nostalgische Erinnerungen bei Francis X. Mooney, der, immer zwei der schmutzigen Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufhastete.
Seit zehn Jahren beriet Mooney die Organisation, die Fälle von den Ärmsten der Armen übernahm, bei ihrer Sozialarbeit. Lächelnd ließ er im Treppenhaus seinen Blick über die Poster und Fotos vom Theater und dem Garten der Organisation gleiten. Seine Arbeit für New York Heart war für ihn in der Tat eine Aufgabe, die er aus Liebe zur Sache übernommen hatte.
» Wo brennt’s, Kinder?«, fragte Francis, nachdem sich die sechs Sozialarbeiter zehn Minuten später im engen Besprechungszimmer versammelt hatten.
Francis X. lächelte die schlaksigen jungen Leute an, die um den ramponierten Tisch herum saßen. Er erinnerte sich an die Zeit, als er so jung gewesen war, als er noch genug Pfeffer im Arsch gehabt hatte, um eine Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Nicht alle jungen Menschen waren selbstsüchtige Jammerlappen, dachte er.
» Ich habe deine Nachricht heute Morgen erhalten, Kurt«, begann er. » Wie läuft’s mit Mr. Franklins Fall?«
Kurt, der fest angestellte Anwalt der Organisation, blickte von seinem Bagel mit Sahnekäse auf. Er hatte in Fordham studiert, aber noch keine Gerichtszulassung, doch Francis glaubte an ihn. Kurts Herz saß am rechten Fleck.
» Ich habe angerufen, weil Mr. Franklin mit seiner letzten Berufung einen Arschtritt kassiert hat«, erklärte er beim Kauen. » Diese Schweine werden ihn am Freitag grillen, und die Reaktionäre da unten werden auf dem Gefängnisparkplatz wahrscheinlich Schlange stehen. Was soll man da noch unternehmen? Ich hoffe, die Republikaner sind glücklich. Wieder beißt einer ins Gras.«
Francis konnte es nicht glauben, dass die anderen anfingen zu kichern. Mr. Reginald Franklin, Sohn einer verarmten New Yorkerin und ein wenig zurückgeblieben, stand kurz davor, von der amerikanischen Regierung hingerichtet zu werden.
Was war daran so lustig?
» Hast du dir die gerichtliche Anordnung des Haftprüfungstermins angesehen?«, fragte Francis.
» Natürlich«, antwortete Kurt. » Das Berufungsgericht hat beschlossen, sich an das Vorstrafenregister zu halten.«
» Das tun die immer«, wandte Francis mit lauter Stimme ein. » Hast du eine Kopie vom Polizeibericht besorgt, wie ich dir gesagt habe? Hast du die Eignung seines ersten Anwalts überprüft? Der Kerl ist angeblich während der Gerichtsverhandlung eingeschlafen.«
Im Besprechungszimmer herrschte völlige Stille. Kurt legte seinen Bagel ab und richtete sich auf.
» Nein, dazu hatte ich keine Gelegenheit«, antwortete er schließlich. » Ich habe dich angerufen.«
» Du hattest keine Gelegenheit? Keine Gelegenheit!«, schrie Francis. Sein Stuhl quietschte, als er hochsprang. » Hast du denn deinen letzten beschissenen Verstand verloren? Der Mann wird sterben!«
» Jesses, Francis«, murmelte Kurt mit gesenktem Kopf. » Entspann dich.«
» Nein!« Francis X. wollte nicht weinen. Nicht vor diesen jungen Leuten, doch er konnte sich nicht zurückhalten. Tränen liefen an seinem roten Gesicht hinab.
» Ich kann mich nicht entspannen, kapierst du das nicht?«, rief er und stürmte hinaus. » Dazu ist keine Zeit mehr.«
4 1
Wir gingen auf dem Gelände der Columbia University gerade quer über den weitläufigen Low Plaza zum Immatrikulationsbüro, um uns die Unterlagen über Dan Hastings zu besorgen, als mein Telefon klingelte.
» Mike«, rief Detective Schultz. » Komm schnell rüber ins Büro des Vizekanzlers an der Low Memorial Library. Wir brauchen deine Hilfe. Das hier wirst du nicht glauben.«
Ich traf meine frustriert aussehenden Kollegen Schultz und Ramirez auf einem Flur im ersten Stock des symbolträchtigen Gebäudes. Die Verwaltung verweigerte ihnen wegen » Verletzung der Privatsphäre« die Herausgabe der Aufnahmen der Sicherheitskameras.
» Diese Spinner tun, als wären wir der KGB, der Menschen für den Gulag einsammelt, statt dass wir das Leben eines ihrer entführten Studenten zu retten versuchen«, wunderte sich Ramirez mit weit aufgerissenen Augen.
Nach einer zwanzigminütigen Diskussion führte schließlich die
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