Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
mich bekreuzigte, tippte mir jemand auf die Schulter. Es war Seamus.
» Braver Junge. Genau so jemanden suche ich«, flüsterte er. » Ich brauche einen Freiwilligen. Willst du die erste Lesung übernehmen oder die Gaben zum Altar bringen? Du entscheidest.«
» Die Gaben zum Altar bringen«, antwortete ich.
» Eigentlich musst du beides tun. Die Sache mit der Entscheidung war gelogen. Dann legen wir mal los.«
Die Messe wirkte feierlicher und trauriger als sonst. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte den Mörder nicht aus meinen Gedanken verbannen, als Seamus, während er das Aschekreuz zeichnete, in Hochlatein den Satz flüsterte, der diesen feierlichen, heiligen Tag kennzeichnete.
»Memento homo, quia pulvis es, et in pulverem reverteris.«
Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst.
Genau diesen Satz hatte der Mörder auf die Tafel neben der Leiche des ersten jungen Mannes geschrieben.
Bitte, lieber Gott, hilf mir, den kranken Menschen aufzuhalten, der für diese Morde verantwortlich ist, betete ich mit meinem Kreuz auf der Stirn auf dem Weg zurück zu meinem Platz.
Als ich niederkniete, wurde mir bewusst, dass ich dasselbe Zeichen auf der Stirn trug wie die Jugendlichen. Meine Stirn schien zu summen. Beinahe konnte ich Jacob Dunning und Chelsea Skinner in den Schatten um mich herum spüren. Hinter meinen geschlossenen Augen sah ich das Gesicht von Dan Hastings, dessen Schicksal noch unbekannt war.
Bitte, lieber Gott, betete ich weiter, ich kann sie nicht im Stich lassen.
67
Francis X. Mooney schüttelte ein paar Dexadrine in seine Hand, als er das Flat Iron Building durchquerte. Auf dem Weg durch den Madison Square Park überlegte er, sie in einen Mülleimer zu werfen. An diesem Tag brauchte er sich nicht aufzuputschen.
Er hatte das Gefühl, als würde sein Blut singen. Alles, was sich seinen wachsamen Sinnen präsentierte, schien bedeutsam zu sein. Die verzierten Fassaden der neoklassischen Gebäude am Broadway, der Geruch von Fett und Zucker vor den Doughnut-Buden, der verdreckte Bürgersteig unter seinen Schuhen. Nichts davon war bisher so lebendig gewesen.
Der Koffer, den er mit sich herumtrug, wurde immer schwerer. Immer wieder musste er ihn von einer in die andere Hand nehmen. Sein Hemd klebte bereits am Rücken, so sehr schwitzte er. Trotzdem würde er auf keinen Fall ein Taxi rufen. Seinen letzten Gang, seine letzte Wallfahrt, musste er zu Fuß zurücklegen.
Ihm hatte die Stadt immer gefallen. Die endlosen, faszinierenden Straßen entlangzugehen gehörte zu den schönsten und einfachsten Freuden seines Lebens. Die Franzosen hatten sogar ein Wort für Stadtspaziergänger geprägt, flâneurs, Menschen, die Spaß daran haben, das städtische Leben völlig objektiv und vom ästhetischen Gesichtspunkt aus zu betrachten.
Doch das war das Problem, dachte er, als er weiterging. Er hatte viel zu lange objektiv sein müssen.
An der Ecke 25 th Street und Fifth Avenue blieb er plötzlich stehen. Eine Frau mit einer weißen Mülltüte näherte sich der Seitengasse neben einem heruntergekommenen Gebäude.
» Entschuldigen Sie«, rief Francis und rannte auf sie zu. » Miss! Miss! Sie da!«
Sie blieb stehen.
» Wie können Sie es wagen!« Francis deutete auf eine Diätcolaflasche, die in der dünnen Tüte deutlich zu sehen war. » Das ist wiederverwertbar. Sie werfen Recyclingmüll fort!«
» Wer sind Sie, die Müllpolizei?«, fragte sie und zeigte ihm den Mittelfinger. » Fangen Sie an zu leben, Sie Jammerlappen.«
Francis erwog, sie zu erschießen. Seine Beretta wartete geladen am Boden seines Koffers. Dem hässlichen Gesicht dieser Frau die Blasiertheit wegblasen und sie in die stinkende Gasse werfen, wohin sie gehörte. Erst als er sich der Passanten bewusst wurde, bekam er sich wieder in den Griff. Er würde sich nicht von seinen Gefühlen übermannen lassen. Er hatte einen viel größeren Braten im Ofen.
Doch er konnte sich nicht zurückhalten und blieb zum zweiten Mal stehen. Auf der 33 rd Road, einen Block südlich des Empire State Building, stellte er vor dem Kastenwagen einer Telefongesellschaft, dessen Motor im Leerlauf vor sich hin surrte, seinen Koffer ab.
» Entschuldigen Sie!«, sagte er zu dem Flegel, der hinter dem Steuer sein Frühstück aß, und klopfte kräftig mit seinem Columbia-Ring an das Seitenfenster. » Hallo! Entschuldigen Sie!«
Der Telefonkerl stieß die Tür auf und sprang auf den Bürgersteig. Mit seinem rasierten Schädel und den breiten
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