Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
Mary«, als ich an der noch immer geschlossenen Badezimmertür vorbeieilte.
War das die richtige Vorgehensweise? Ich war mir nicht sicher. Ich hatte noch nie vorher mit dem Kindermädchen meiner Kinder geknutscht.
Vor dem Fahrstuhlspiegel wischte ich mir das Lipgloss vom Kinn. Doch der Geschmack blieb auf meinen Lippen haften, und ich fragte mich, was, zum Teufel, gerade passiert war und wie es mir damit erging.
Als hätte ich im Moment nicht schon genug um die Ohren.
» Verdammt, Mike.«
71
Ich stieg in Emilys in zweiter Reihe parkenden Crown Vic. Sie trug eine neue, weiße Seidenbluse und ein schickes, beigefarbenes Kostüm. Da sich der Fall eine Weile hinzog, schien sie ein paar Einkäufe getätigt zu haben.
Bildete ich es mir nur ein, oder zeigte die Bluse einen ziemlich hübschen Brustansatz? Ich rieb mir die Augen. Was war bloß mit mir los?
» Mit Ihnen alles in Ordnung, Mike?«
» Ging mir nie besser.« Ich lächelte. » Um was geht’s?«
Emily reichte mir einen Ordner.
» Wir haben endlich den toxikologischen Bericht über die am ersten Opfer, Jacob Dunning, gefundene Asche erhalten. Sagt Ihnen Röntgenfluoreszenzspektroskopie was?«
» Wurde vor sechs Monaten bei mir gemacht«, sagte ich und nickte. » Der Arzt meinte, ich sei blitzeblank.«
Emily überging meinen blöden Witz. » Passen Sie gut auf, Schlaumeier. Die einzelnen Elemente reflektieren Röntgenstrahlen in unterschiedlichen Mustern. Die Asche wurde durch das Gerät gejagt – der größte Teil ist Zigarettenasche. Das Seltsame ist, dass auch Spuren von einer weiteren, sehr interessanten Substanz gefunden wurden, die im Schweiß des Mörders enthalten war.«
» Was für eine Art Substanz ist das?«, fragte ich.
Emily hob ein Klemmbrett an.
» Verschiedene Amphetamine und ein Medikament mit der Bezeichnung … Iressa. Es wird zur Chemotherapie bei Lungenkrebs verwendet.«
Nickend rieb ich mir übers Gesicht.
» Hey, gute Arbeit«, lobte ich. » Ich werde Schultz sagen, er soll mit Sloan-Kettering und den anderen Krebszentren Kontakt aufnehmen und deren Patienten überprüfen. Damit hätten wir ein stichhaltigeres Motiv. Wenn der Kerl ein Todgeweihter ist, hat er sich vielleicht eine Aufgabenliste zusammengestellt, die er abarbeitet, bevor er den Löffel abgibt. Vielleicht ist das seine Art, sich mit einem großen Knall zu verabschieden.«
» Lustig, dass Sie ›Knall‹ sagen.« Emily deutete auf dem Fax auf einen Namen. » Weil die Medikamente nicht das Schlimmste sind. Es wurde etwas nachgewiesen, das sich Pentaerythrit nennt. Es ist in Plastiksprengstoff enthalten.«
72
Entführung, Mord und jetzt Plastiksprengstoff? Dieser Albtraum von einem Fall wurde immer schlimmer. Ohne Erfolg versuchte ich mich selbst daraus zu wecken, als Emilys verschlüsseltes Handy klingelte.
» Bleiben Sie dran«, sagte sie ins Telefon. » Ich klemme das Gespräch nur schnell an den Lautsprecher.«
» Wir haben den Fingerabdruck zurück, Em«, meldete FBI-Laborchef Tom Warriner einen Moment später. » Du wirst es nicht glauben – wir haben einen Treffer, aber einen, der mit Cointelpro gekennzeichnet ist.«
» Cointelpro?«, fragte ich nach.
» Das Spionageabwehrprogramm des FBI«, erklärte Emily.
» Die Abteilung, die damit befasst war, wurde vom New Yorker Büro abgekoppelt«, fuhr Warriner fort. » Die Abteilung für inländischen Terrorismus. Der zum Fingerabdruck dazugehörige Codename ist ›Schattenbox‹.«
» Bei der Spionageabwehr werden Codenamen vergeben, wenn die Identität von Personen als geheim eingestuft wurde«, erklärte Emily und verdrehte die Augen. » Wie die CIA liebt die Gespensterabteilung des FBI Codes und Passwörter. James Bond, jetzt musst du dich aber anstrengen.«
Sie richtete ihre Stimme wieder aufs Telefon.
» Also, was denkst du, Tom? War unser Typ, dieser Schattenbox, also ein Informant mit Kontakt zu einer Terroristengruppe?«
Terrorismus? Ich versuchte noch den Hinweis mit dem Plastiksprengstoff zu verdauen.
» Höchstwahrscheinlich«, antwortete der Laborchef.
» Und wie kommen wir an die Person, die zu diesem Codenamen passt?«, wollte ich wissen.
» Ich habe zweimal versucht, die alten Datenbanken zu knacken, aber einige Cointelpro-Daten scheinen zu fehlen«, antwortete Warriner.
Emily schnaubte.
» Na klar! Auf geht’s ins gute, alte Speicherloch. Was sollen wir jetzt tun? Wie können wir das umgehen?«
» Ich habe mich umgehört. Das Beste ist, ihr redet mit einem Kerl namens John
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