Sünden der Leidenschaft
sich behalten. Am Abend, nachdem sie mehrfach erbrochen hatte, war sie so geschwächt, daß sie ihre Hand nicht mehr heben konnte. Ihr Puls war kaum wahrzunehmen, ihr Körper kalt. Sie hatte starke Krämpfe in Armen und Beinen und konnte die Augen kaum noch offen halten. Ihre Haut war sehr trocken, ein Zeichen dafür, daß sie innerlich austrocknete.
Adam saß an ihrem Bett, verstört vor Angst wegen Lucies zunehmend sich verschlechterndem Zustand. »Wir müssen den Zug anhalten«, sagte er, und sein Magen verkrampfte sich vor Angst. »Wir brauchen einen Arzt.«
»Ich werde Henry bitten, dem Lokführer zu sagen, daß wir in der nächsten Stadt einen Arzt benötigen«, sagte Flora und stand von ihrem Stuhl am Ende des Bettes auf. Sie lief aus dem Raum und ging durch den Waggon, um Henry zu suchen. Erschrocken hatte sie Lucies Symptome zur Kenntnis genommen, aber nicht gewagt, ihre Vermutung zu äußern. Sie verfügte nicht über genug Sachkenntnis, um Cholera zu diagnostizieren oder zu behandeln, und wollte Adam, der bereits in größter Sorge war, nicht noch mehr ängstigen.
»Wir werden bald einen Arzt finden«, flüsterte Adam Lucie zu und streichelte ihr liebevoll die Stirn. Ihre kalte Haut zog sich unter seiner Berührung noch mehr zusammen. »Papa ist ja da, ich bleibe hier. Der Arzt wird wissen, was zu tun ist. Wir sind bald da …« Er flüsterte nur noch. »Und dann werden wir nach Hause fahren.«
Als Henry nach einigen Minuten in der Tür erschien, sah Adam ihn an und fragte erregt: »Wie weit noch?«
»Vierzig Meilen. Der Lokführer will vorab telegrafieren, damit der Arzt am Bahnhof wartet. Noch eine halbe Stunde«, sagte Henry aufmunternd. Auch er erkannte die Cholera; auf seinen Reisen war er ihr oft begegnet.
Adam nickte und wandte sich wieder seiner Tochter zu. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr, nur noch die furchtbare Bedrohung für Lucies Leben. Die drastische Veränderung ihres Befindens in so kurzer Zeit beunruhigte ihn über alle Maßen. Er senkte den Kopf und betete leise zu Dem Einen Der Alle Dinge Erschaffen Hat. Er bat seine Geister, ihn zu erhören, selbst in einem fremden, weit entfernten Land. »Ich brauche deine Hilfe, Ah-badt-dadt-deah, und deine Stärke, um mein einziges Kind zu retten. Sie ist mein Sonnenschein und mein Glück, die süße Hoffnung meines Lebens. Bitte, erhöre mich in dieser Nacht, schicke mir deine Hilfe. Sie ist so jung.«
Er konnte sich noch gut an die unglaubliche Freude erinnern, als er seine Tochter zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte. Cloudy hatte sie wenige Minuten nach der Geburt zu ihm gebracht und gesagt: »Sie gehört jetzt Ihnen, Monsieur le Comte. Wir sorgen dafür, daß sie glücklich wird, nicht wahr?« Lucies Augen waren weit geöffnet gewesen, und sie hatte ihn aus ihrem weichen weißen Wickeltuch heraus so ernst angesehen, daß er überzeugt gewesen war, sie hätte verstanden, was Cloudy gesagt hatte. Er hatte dem kleinen rosigen Baby zugeflüstert: »Willkommen in Aspen Valley, Lucie Serre. Cloudy hat unrecht. Du wirst uns glücklich machen.«
Sie war sofort der Mittelpunkt seines Lebens geworden. Unter Cloudys strenger Anleitung hatte er gelernt, sie zu baden, zu füttern und ihre Windeln zu wechseln. Er hatte seine Lieder gesungen, wenn er sie in den Schlaf gewiegt hatte, die Schlaflieder der Absarokees, die seine Mutter schon für ihn gesungen hatte.
Er hatte ihr erstes Wort gehört: »Pferd«. Als sie ihre ersten, wackligen Gehversuche gewagt hatte, war er zur Stelle gewesen. Mit zwei Jahren hatte sie auf einem Pony reiten können. Jeden Morgen hatte sie Adam geweckt, mit ihm gegessen und ihm ihre neuesten Erlebnisse vorgetragen. Sie hatte dafür gesorgt, daß er gelächelt hatte und glücklich gewesen war.
Er durfte sie nicht verlieren.
Seine Welt würde dunkel werden.
Er nahm seine Ohrringe heraus und legte sie sorgfältig neben ihr Kopfkissen. »Rette sie, Ah-badt-dadt-deah«, betete er. »Sie ist mein Leben.«
Flora kämpfte mit den Tränen, als sie sah, daß Adam den Talisman, der sein eigenes Leben beschützen sollte, hingab, um seine Tochter zu retten. Sein Kummer zerriß ihr das Herz, und sie wollte ihn in die Arme nehmen, aber sie blieb ruhig an der Tür stehen, um sich nicht einzumischen, denn sie wußte, daß er mit Lucie in seiner eigenen Welt war.
»Atme, Liebes«, flüsterte er, tief über ihren stillen Körper gebeugt. »Atme weiter … so ist es gut.« Er achtete sorgsam auf ihre Atmung und hielt den
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