Sünden der Leidenschaft
Schritte. Das ist nicht sehr fein. Nun komm her und setzt dich zu mir«, fuhr Molly fort, winkte ihre Nichte heran und bot ihr den kleinen Stuhl neben dem Bett an. »Wir können in Ruhe darüber sprechen.«
»Am liebsten würde ich ihr die Augen auskratzen«, erklärte Henrietta düster und kam in etwas kürzeren Schritten auf das große, mit weißem Satin und azurblauer Seidenborde dekorierte Bett ihrer Tante zu. »Sie ist alt«, brach es aus dem jungen Mädchen heraus. Henrietta setzte sich so heftig, daß ihre Tante um den hübschen Louis-Quinze-Stuhl bangte. »Sie ist mindestens dreiundzwanzig, und jeder weiß, daß man eine alte Jungfer wird, wenn man mit dreiundzwanzig noch nicht verheiratet ist. Ich verstehe nicht, was er an ihr findet.«
»Von wem sprichst du, wenn ich fragen darf, Liebes?«
»Von Lady Flora!« beklagte sich Henrietta. »Sie war heute morgen in Adams Zimmer und hatte nichts an – ich meine, fast nichts. Und Adam trug nur einen seidenen Hausmantel. Aber er sah sooo sagenhaft auf, Tantchen«, fügte sie mit Bewunderung in ihrer Stimme hinzu.
»In Adams Zimmer im Hotel?« wiederholte ihre Tante entsetzt.
»Natürlich in seinem Zimmer im Hotel. Wo sollte er sonst gewesen sein?«
Molly Fisk konnte sich eine Menge anderer Orte vorstellen, an denen Adam sein konnte, von Bordellen bis hin zu den Boudoirs besserer Damen. Aber so etwas sollten achtzehnjährige Jungfrauen nicht unbedingt wissen. »Hat dich jemand gesehen?« erkundigte sie sich, besorgt um Henriettas guten Ruf.
Henrietta sah sie verständnislos an, und für einen Augenblick blieb Mollys Herz vor Schreck stehen. Diese Närrin. »Überleg noch einmal«, beharrte sie ernst. »Hast du jemanden in der Hotelhalle getroffen, der dich erkannt hat? Oder auf der Treppe? Oder auf dem Flur?«
»Ich glaube nicht …«
Molly dachte sich bereits jede Menge möglicher Entschuldigungen aus. Schließlich war es Sonntag. Sie begutachtete die Kleidung ihrer Nichte. Zumindest hatte sich Henrietta vernünftig angezogen. Ihr blaues Vormittagskleid und der kleine Hut waren für den Kirchgang oder die Sonntagsschule passend. Sie konnte durchaus auf dem Weg zur Sonntagsschule gewesen sein. Gott sei Dank, dachte Molly, hatte sie ausreichend Einfluß in der Gemeinde, um eine so unwahrscheinliche Geschichte in Umlauf zu bringen.
»Nun, ich hoffe, du hast recht«, sagte sie kurz. »Normalerweise ist unsereins um diese Zeit ja noch im Bett. Nur Arbeiter stehen so früh auf. Und was Lady Flora in Adams Zimmer betrifft – sie ist eine ungewöhnliche Frau, und Männer finden diese beherzten Frauen nun mal interessant«, schloß sie nachdenklich. Sie hatte bisher von ihrem Mann nur Lobreden auf Flora gehört. »Und was Adam Serre in Lady Flora sieht, ist ja wohl offensichtlich – sie ist schön, reich und unkonventionell. Clara hat mir erzählt, daß Lady Flora die meisten in Frage kommenden Junggesellen, die um ihre Hand angehalten haben, in England und auch auf dem Kontinent, abgelehnt hat.«
»Woher weiß sie das?« fragte Henriette bockig und verstimmt über Floras offenbar angenehmen Ruf. »Ich glaube dir nicht.« Ihr finsterer Blick verstärkte ihr unerfreuliches Aussehen.
»Clara Lockwood hat eine Cousine, die mit einem Baron aus Surrey verheiratet ist. Dieser Baron ist ein weitläufiger Verwandter von Lord Haldane. Auch wenn Lady Flora eine alte Jungfer von sechsundzwanzig und nicht von dreiundzwanzig Jahren ist, meine Liebe, ist das ihre Entscheidung. Ebenso wie ihr merkwürdiges Interesse am Leben der Indianer. Nach der Exzentrik reicher Aristokraten fragt man nicht, Liebling, wie du vielleicht weißt. Und vermögende Adlige wie Lord Haldane, Lady Flora und der Comte de Chastellux, der dich so interessiert, leben immer nach ihren eigenen Regeln, die für uns normale Sterbliche nicht gelten, so sehr wir uns auch bemühen. Hast du verstanden, Henrietta?«
»Nein! Papa und Onkel Harold haben auch viel Geld und leben trotzdem nicht außerhalb der Konventionen.«
Wie sollte Molly ihr nur erklären, daß ihr Vater und ihr Onkel in vielerlei Hinsicht nach ihren eigenen Gesetzen lebten, ohne diesem unschuldigen jungen Mädchen zuviel über die schmutzige Welt zu erzählen? »Erinnerst du dich, als dein Vater den Präsidenten zum Essen eingeladen hatte?«
»Selbstverständlich. Mama ließ das ganze Haus neu herrichten.«
»Nun, wie du siehst, ist dein Vater mit dem Präsidenten befreundet, weil er ein sehr tüchtiger und reicher Geschäftsmann ist.
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