Sünden der Nacht
Thema mit einem Schulterzucken. Sie zog sich einen Stuhl über den Linoleumboden und kletterte drauf, um die Schüsseln aus einem Hängeschrank zu angeln. Megan machte sich daran, die Schachtel zu öffnen und das Mitbringsel auszuteilen.
»Ich kann zwei Kugeln essen«, sagte Jessie und lugte über den gekachelten Küchentisch. »Daddy kann ungefähr zehn essen.
Scotch kriegt nichts, weil er zu fett ist.«
Megans Blick huschte durch die Küche, registrierte die Meisterwerke mit Malstift und Fingerfarbe, die an der Wand und am Kühlschrank klebten. Sie zerrten an einem schwachen Punkt ihres Herzens – ihre Naivität, der unbeschwerte Schwung und die Vorliebe für seltsame Details. Und die Tatsache, daß Mitch sie so stolz zur Schau stellte! Sie konnte ihn sich gut vorstellen, den eisenharten Cop, wie er mit Tesafilm
herumfummelte, leise vor sich hin fluchend, und schwitzte, um das neueste Kunstwerk gerade an die Wand zu kriegen. Sie konnte nicht umhin, diese Küche mit der in der Butler Street in St. Paul zu vergleichen, die nach Fett, Zigaretten und bitteren Erinnerungen roch. Ein Pappkarton unter ihrem Bett war die Schatztruhe für Dinge gewesen, auf die sie und sonst keiner stolz gewesen war.
»Du bist wirklich eine Künstlerin«, sagte sie zu Jessie. »Hast du all die Bilder gemacht, damit dein Daddy sie aufhängen kann?«
Jessie ging zu einem, das in Augenhöhe schwebte. »Das ist 409
mein Daddy, und das bin ich, und das ist Scotch«, erklärte sie ihr. Mitch war als abstraktes Arrangement geometrischer Flächen dargestellt, wie ein Mann aus Bauklötzen. Auf seiner Brust prangte eine Polizeimarke so groß wie ein Teller. Scotch hatte ungefähr die Größe eines Shetlandponys mit Zähnen wie eine Bärenfalle. Eine lange, rosa Zunge baumelte aus seinem Maul.
»Ich hab früher eine Mommy gehabt«, sagte Jessie, als sie zum Tisch zurückkam und die Arme drauflegte. »Aber sie ist in den Himmel gegangen.«
Sie sagte das ganz selbstverständlich, aber Megan ging es durch Mark und Bein. Sie setzte sich auf einen Stuhl, beugte sich über den Tisch und sah Mitchs hübscher, dunkeläugiger Tochter mit ihren schiefen Spangen und dem violetten
Sweatshirt direkt in die Augen.
»Ich weiß«, sagte sie leise. »Das ist schwer. Ich hab auch meine Mom verloren, als ich noch klein war.«
Jessies Augen weiteten sich vor Staunen über diese
unerwartete Gemeinsamkeit. »Ist sie in den Himmel gegangen?«
»Nein«, murmelte Megan. »Sie ist bloß so verschwunden.«
»Weil du unartig warst?« fragte Jessie schüchtern.
»Das hab ich manchmal gedacht«, gab Megan zu. »Aber ich glaube, sie hat meinen Dad einfach nicht mehr lieb gehabt, und ich glaube, sie wollte keine Mom sein, also war sie eines Tages weg.«
Der Augenblick dehnte sich. Der Kühlschrank summte. Mitchs Tochter musterte sie mit ernsten braunen Augen.
»Das ist wie Scheidigung«, sagte Jessie. »Mami und Papi von meiner Freundin Janet haben sich scheidigen lassen, aber er will samstags immer noch ihr Papi sein. Es ist ganz schwer, wenn man klein ist.«
»Manchmal.« Megan staunte über sich selbst. Sie redete nicht 410
über ihre Vergangenheit, niemals, mit niemandem. Sie war vorbei, längst vorbei, spielte keine Rolle mehr. Und trotzdem saß sie jetzt hier und unterhielt sich mit einer Fünfjährigen über diese Dinge, und es war so … richtig, was ihr eine Höllenangst einjagte. Was machte sie da? Was dachte sie sich dabei?
Du hast zuviel gearbeitet, O’Malley.
Mitch stand im Wohnzimmer, wie angewurzelt. Er hatte nicht vorgehabt zu lauschen, hatte nur kurz durch die Tür spitzen wollen, um zu sehen, wie Jessie und Megan miteinander
auskamen. Jessie wollte ihn immer für sich haben und war sehr eifersüchtig, wenn es um ihre Zeit zusammen ging. Er müßte sehen, wie sie sich benahm, wenn er nicht dabei war, um auf ihre Manieren zu achten. Er hatte aber ganz sicher nicht damit gerechnet, ein Geständnis Megans über ihre streng gehütete Vergangenheit zu hören.
Er erinnerte sich daran, wie sie ihm von ihrer Mutter erzählt hatte.
Trotzig. Voller Haß. Ihre Reserviertheit hatte sie wie ein Schild vor sich hingehalten. Die Frau, die seiner kleinen Tochter bei häuslichen Verrichtungen Geheimnisse anvertraute, war nichts von all dem, sondern eine Frau, die selbst ein kleines Mädchen gewesen war; mit der Angst, sie hätte ihre Mutter irgendwie vergrault. Die Wahrheit rührte ihn.
Verdammt. Er war sich sicher gewesen, daß er die
Leidenschaft, die
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