Sünden der Nacht
stimmte nicht.
Er ging zurück zum Tisch, wo Joshs Notizbuch lag. Wo war ein Verdächtiger? Jemand, der die Kirkwoods kannte, die Gegend kannte. Josh kannte?
Wiederum blätterte er durch die Seiten voller Gekritzel und Spiele, dem Stolz über die Ernennung zum Co-Captain seines Eishockeyteams, seine Traurigkeit über die Probleme seiner Eltern. Dad ist sauer. Mom ist traurig. Ich fühl mich mies …
Eheprobleme hatten Paul Kirkwood nicht zu der Art Monster gemacht, das seinen eigenen Sohn stahl und Zitate über Sünde und Ignoranz hinterließ. Sünde.
Mitch blätterte weiter und sah sich die Zeichnungen sehr genau an. Joshs Interpretation von Gott und dem Teufel, seine Meinung über den Religionsunterricht – böse Gesichter und Daumen nach unten. Sünde. Vor seinem geistigen Auge erhob sich Albert Fletcher, den Diakon von St. Elysius, wie er am Rand der Old Cedar Road stand und dieKapuze eines schwarzen Parkas sein hageres Gesicht umrahmte.
21 Uhr 57; -34 Grad, Windabkühlungsfaktor: -48 Grad
»In einer vollkommenen Welt wäre Hannah Kandidatin für den Heiligenstand«, verkündete Kathleen Casey, die auf einer durchgesessenen Couch im Schwesternaufenthaltsraum hockte; ihre Turnschuhe hatte sie auf einen flachen Tisch aus heller skandinavischer Eiche plaziert. Sie trug grüne Operations-kleidung und einen Labormantel, aus dessen Brusttasche ein Stethoskop baumelte. Nachdenklich nagte sie an der Plastikkappe einer Spritze und starrte, ohne etwas zu sehen, in den 510
Fernseher an der gegenüberliegenden Wand. »Alle, die dafür sind, die Welt zu einem perfekten Ort zu machen, Hand heben!«
Megan sank tiefer in die Reste eines ledergepolsterten Sessels.
Betonung auf Reste. Nur sie beide befanden sich im
Aufenthaltsraum, hinter der offenen Tür war es still in dem kleinen Hospital. Gelegentlich läutete ein Telefon, ab und zu kam eine Durchsage. Eine ganz andere Welt als die großen Stadtkliniken mit ihrer Technik und Hektik.
Megan spielte mit dem Gedanken, sich ein leeres Bett zu suchen und hineinzufallen. Vielleicht ein nettes Schlafmittel gespritzt bekommen und dann acht bis zehn Stunden totales Vergessen! Sie rieb sich die Stirn und seufzte.
»Wie stehen ihre Mitarbeiter zu ihr?« Sie unterstrich das Wort Mitarbeiter in ihrem Notizblock.
»Wie ich schon den letzten neun Cops sagte, sie ist der Traum jeder Schwester. Ich muß mich immer wieder zwicken, wenn wir zusammenarbeiten.« Die vielen Jahre mit ganz anderen Erfahrungen waren in ihren kleinen, strahlend braunen Augen zu sehen. »Sechzehn Jahre in diesem Geschäft. Ich hab mir die Hörner mit arroganten Assistenzärzten und Chefs abgestoßen, die geschworen haben, sie könnten keinen Gotteskomplex haben, weil sie Götter seien. Wenn diese Typen den Himmel bevölkern bei meiner Ankunft, hoff ich, daß mein Visum am Tor verfällt.«
»Wie kommt sie mit den anderen Ärzten aus?«
»Wunderbar – mit Ausnahme von Mr. Möchtegern, Dr. Craig Lomax. Er war eingeschnappt, als Hannah zum Chef der Notaufnahme ernannt wurde. Irgendwie ist es seiner Aufmerksamkeit entgangen, daß er ein hundsmiserabler Arzt ist.«
»Wie eingeschnappt?«
»Genug, um uns alle mit seiner Schmollerei zu bestrafen.
Genug, um Hannahs Autorität zu untergraben.« Sie nahm einen Schluck koffeinfreies Pepsi, dann steckte sie sich die 511
Plastikkappe wieder in den Mund und biß zu. »Wenn Sie mich fragen, ob er so eingeschnappt war, daß er Josh entführt hat, ist die Antwort nein. Lästig ist er schon, aber nicht wahnsinnig.
Außerdem hatte er in der fraglichen Nacht Dienst.«
»Und was ist mit den Patienten?« fragte Megan. »Fällt Ihnen jemand ein, der mit dem Ausgang eines Falles nicht gut fertig wurde? Jemand, der ihr die Schuld zugeschoben hätte?«
Kathleen strich sich ihr dichtes, rotes Haar zurück, während sie überlegte. »Hier ist es nicht wie in der Stadt, wissen Sie. Die Menschen in Kleinstädten führen keine Prozesse wegen
Kunstfehlern. Sie vertrauen ihren Ärzten und akzeptieren vernünftigerweise, daß nicht alles immer so funktioniert, wie man wünscht und daß nicht unbedingt jemand daran schuld ist.«
Megan ließ nicht locker. »Wie steht es mit Verwandten von Leuten, die es nicht geschafft haben? Ein Elternteil, das ein Kind verloren hat, vielleicht?«
»Lassen Sie mich überlegen … Die Muellers haben letzten Herbst ihr Kind durch Krippentod verloren. Als sie es
einlieferten, war es bereits tot. Hannah hat eine Ewigkeit an dem Baby hingearbeitet,
Weitere Kostenlose Bücher