Sündenfall: Roman (German Edition)
Taschenrechner von der Größe eines Mauersteins. Die fehlende Staubschicht wies eindeutig darauf hin, dass der Schreibtisch samt Inhalt regelmäßig benutzt worden war. Aber warum hatte Struk sein Arbeitszimmer im Keller eingerichtet, obwohl oben alles leer stand?
Janusz griff nach dem Namensschild aus schwarzem Plastik auf der vorderen Schreibtischkante. »Leutnant Witold Struk, S ł u ż ba Bezpiecze ń stwa – Dzia ł Trzy« , hieß es da in goldenen Buchstaben. Also hatte Struk in der berüchtigten Abteilung Drei der SB gearbeitet, die für die Bespitzelung, Inhaftierung und Folterung von Dissidenten zuständig gewesen war. Janusz spürte, wie der Puls an seiner Kehle unangenehm zu pochen begann. Er richtete einen Bilderrahmen auf, der verkehrt herum auf dem Schreibtisch lag, und betrachtete im Lampenlicht die beiden ausgebleichten Fotografien. Die eine war schwarzweiß und zeigte den jungen Struk in Armeeuniform beim Strammstehen auf dem Roten Platz in Moskau, vermutlich aufgenommen während seiner Ausbildung bei der SB . Auf der anderen, diesmal in Farbe, stand er aufrecht hinter seinem Schreibtisch in einem Büro mit hoher Decke, während eine im Hintergrund nur verschwommen zu sehende Frau an einer Schreibmaschine saß. Diesmal trug er eine Brille, und sein Haar war stahlgrau.
Dreißig Jahre oder mehr trennten die beiden Porträts voneinander, doch eines hatte sich nicht verändert: Struks durchdringender Blick, der dem Betrachter entgegenloderte, und zwar völlig frei von auch nur dem geringsten Hauch von Selbstironie oder Zweifeln.
Als Janusz die Wand hinter dem Schreibtisch ableuchtete, stellte er fest, dass sie mit stockfleckigen Propagandaplakaten bedeckt war, wie er sie noch aus seiner Jugend kannte. Das erste stellte ein Mädchen mit dem grünen Hemd und der roten Krawatte der polnischen Jugendorganisation am Steuer eines Mähdreschers dar, die Miene in einer fast wahnwitzigen Hingabe an den Sozialismus erstarrt. Daneben, auf einem zerschrammten Aktenschrank aus Eiche, warf eine Messingbüste von Wladimir Iljitsch Lenin einen geisterhaften Schatten auf Wand und Decke.
Janusz wischte sich den Schweiß vom Haaransatz. Als das Regime endlich gestürzt worden war, hatten seine Lakaien nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die Beweise für ihre Verbrechen zu beseitigen, zu verbrennen oder in den Reißwolf zu stecken. Dieser Dreckskerl hingegen hatte alle Souvenirs an seine Karriere als Verräter sorgfältig aufbewahrt und der kommunistischen Herrschaft einen Schrein eingerichtet.
Janusz zog den Bürostuhl unter dem Schreibtisch hervor und ließ sich darauf nieder. Trotz des Trenchcoats erschauderte er immer wieder. Dieses gruselige Museum hatte schlagartig jede Spur von Mitgefühl ausgelöscht, die er für den alten Mann empfunden haben mochte. Offenbar hatte Struk es keinen Augenblick bereut, dass er sein Leben damit verbracht hatte, seine polnischen Landsleute zu schikanieren.
Der Inhalt von Struks Schreibtisch setzte sich aus bestürzenden Momentaufnahmen, entstanden in einer viel beschäftigten Dienststelle der SB Anfang der Achtzigerjahre, zusammen. In einer Schublade entdeckte Janusz Kopien von beschlagnahmten Untergrund- samizdats , zusammen mit einer Akte voller Haftbefehle für die Studenten, die dabei erwischt worden waren, als sie sie druckten. Er brachte es nicht über sich, die Verhörprotokolle zu lesen, doch das Schwarzweißfoto eines mageren jungen Mannes, das an eines davon geheftet war, zog seinen Blick wider Willen an wie ein Magnet. Ein Auge des Jungen war schwarz angelaufen und bis auf einen Schlitz zugeschwollen. Doch es war die Mischung aus Trotz und Angst, die sich in seinem anderen Auge zeigte, die Janusz traf wie ein Schlag in die Magengrube.
Keuchend knallte er die Schublade zu und drängte die schrecklichen Bilder zurück, die in ihm aufstiegen. Wieder hatte er die Vernehmungsspezialisten in Montelupich vor sich – ihre hämischen Mienen waren schlimmer gewesen als die Tritte und Schläge. Sicher gab es viele Menschen, die guten Grund gehabt hatten, Struk umzubringen, doch Rache für damals war ganz sicher nicht Pawel Adamskis Motiv – dazu war er schlicht und ergreifend zu jung.
Die Aktenschublade des Schreibtischs öffnete sich mit einem metallischen Quietschen. Die Hängeordner darin enthielten eine Sammlung langweiliger Protokolle von kommunistischen Tagungen. Doch als Janusz die Schublade wieder schließen wollte, kam ihm etwas seltsam vor, denn ihre Tiefe und die
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