Sündenfall: Roman (German Edition)
war? Die Erkenntnis, dass Ela mich nicht beschützen konnte – und sich selbst auch nicht.«
»Wie alt warst du?«, erkundigte Janusz sich in barschem Ton.
»Sechs.« Zum ersten Mal seit Anfang seines Berichts sah Pawel ihm direkt in die Augen. »Ela war sieben.«
Janusz’ Nägel gruben sich in seine Handflächen. »Was war mit den Leuten im Heim? Konntet ihr denen nicht sagen, was los war?«
Pawel schnaubte verächtlich. »Die haben alle weggeschaut. Schließlich wollten sie nicht ihren Job riskieren, indem sie einem esbek auf die Zehen traten.«
»Und Struk?«, fragte Janusz nach einer Weile. »War der auch an dem … Missbrauch beteiligt?«
»Nein, der hat nur den Boten gespielt.« Pawel schleuderte das Wort heraus. »Aber eigentlich habe ich ihn noch viel mehr gehasst. Er hat uns Woche um Woche zu diesem Haus und wieder zurück gekarrt und getan, als wäre alles in bester Ordnung.« Er schlang die Arme um den Leib. »Das eine Mal, als ich meinen Mut zusammengenommen und gesagt habe, dass ich und Ela da nicht mehr hinwollten, hat er mich angebrüllt, ich sei nichts als Dreck, genauso wie meine straszna Familie.«
Janusz konnte nicht mehr stillsitzen und fing an, auf und ab zu gehen.
»Was ist mit ihm und Zamorski?«, erkundigte er sich, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte. »Hast du je beobachtet, dass Päckchen oder Geld übergeben wurden?«
»Nein, sie haben kaum ein Wort miteinander gewechselt.« Pawel verzog eine Gesichtshälfte zu einem höhnischen Grinsen. »Die beiden konnten einander nämlich nicht ausstehen. Zamorski hat Struk behandelt wie einen Fußabstreifer – einmal hat er ihn vor unseren Augen geohrfeigt, weil er vergessen hatte, ihm irgendeine Zeitschrift mitzubringen.«
Janusz runzelte die Stirn. In der SB -Akte, die er aus Struks Haus mitgenommen hatte, hatte Leutnant Struk die persönlichen Übergaben von Elsters/Zamorskis »wyp ł aty« , seinen Lohntüten, fein säuberlich aufgeführt. Bis jetzt hatte Janusz angenommen, dass es sich dabei um Umschläge voller ausländischer Banknoten handelte. Doch schon im nächsten Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die »Lohntüten« waren der sechsjährige Pawel und die siebenjährige Ela gewesen, abgeholt im Kinderheim und abgeliefert beim Topagenten des Geheimdienstes – wie eine Bestellung vom Heimservice , schoss es ihm durch den Kopf.
»Stand diese dacza an einem See?«, fragte er.
Pawel nickte.
Die Ansicht einer grün gestrichenen dacza aus Holz an einem Seeufer … inmitten von Birken … die Vorhänge immer geschlossen – Struks gespenstische Galerie auf dem Speicher, die Szene, die er wieder und wieder gemalt hatte.
Damals hatten die bedrohliche Stimmung der Gemälde und Struks beinahe feindseliger Tunnelblick Janusz Rätsel aufgegeben. Nun fiel endlich der Groschen: Struk hatte Zamorski gehasst – und zwar nicht, weil dieser ein Kinderschänder war, sondern weil er ihn, einen Leutnant der SB , zum Zuhälter und Botenjungen degradiert und letztlich seine Herabstufung zu verantworten hatte. Vielleicht hatte er angefangen, die dacza zu malen, um sich die Zeit zu vertreiben, bis er die Kinder wieder abholen musste. Doch irgendwann war es zur Zwangshandlung geworden, immer wieder dieselbe Szene darzustellen – wie ein Voodoo-Zauber, ein ewiger Racheschwur gegen seinen Feind.
Er betrachtete Pawels schmales, traurig dreinblickendes Gesicht. »Wie lange ging das so?«
»Den ganzen Sommer. Dann hörte es einfach auf. Wir haben die beiden nie wiedergesehen.«
Die Männer schwiegen.
Nach einer Weile sprach Pawel weiter. »Später bin ich immer öfter grundlos ausgerastet und habe die anderen Kinder und die Lehrer geschlagen. Einige Monate danach habe ich versucht, mich aufzuhängen, aber Ela hat mich gefunden und mir das Leben gerettet.« Er zündete sich am Stummel seiner Zigarette die nächste an. »Doch es hat einen Keil zwischen uns getrieben. Ich wusste, dass mein Anblick sie an Dinge erinnerte … die sie vergessen musste.«
Janusz nickte verständnisvoll.
»Weißt du, ich glaube, dass er sie beobachten ließ, selbst nachdem die englische Dame sie adoptiert hatte. Mich sicher auch. Aber sie hat nie Schwierigkeiten gemacht.« Zornig schlug er sich auf die magere Brust. »Aber ich musste natürlich den Drachen wecken.«
Für viele polnische Kinder war es das erste Märchen, das sie zu hören bekamen: Es handelte von einem Drachen, der viele Jahrhunderte lang in einer Höhle unweit von Krakau geschlafen
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