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Sündenfall: Roman (German Edition)

Sündenfall: Roman (German Edition)

Titel: Sündenfall: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anya Lipska
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Uhr auf 0:08 umgesprungen waren, drückte sie auf PLAY – und spürte, wie sich ihr die Härchen an den Unterarmen aufstellten.
    Ein breitschultriger Mann in einem dreiviertellangen Ledermantel und mit einem dieser schicken Retrohüte – einem so genannten Pork Pie – auf dem Kopf schlenderte allein zur Rezeption. Während er die Check-in-Prozedur durchlief, hielt Kershaw den Atem an und betete, er möge sich umblicken oder wenigstens den Kopf so weit drehen, dass sein rechtes Profil in Sicht kam. Aber der Mann wandte der Kamera unbeirrt den Hinterkopf zu. Sie wagte nicht, Luft zu holen, bis der Rezeptionist ihm endlich Kreditkarte und Kartenschlüssel reichte. Nach rechts , schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel. Nachdem sie einige Gäste beim Check-in beobachtet hatte, wusste sie, dass er sofort aus der Reichweite der Kamera geriete, wenn er sich nach links wandte. Ging er jedoch nach rechts, würde sie einen kurzen Blick auf ihn erhaschen können.
    Nach rechts, du Mistkerl.
    Er ging nach links. Kershaw seufzte entnervt auf.
    Das war wieder einmal typisch, verdammt! Sie spulte das Band noch mehrmals vor und zurück und konzentrierte sich besonders auf die wenigen Sekunden, in denen der Mann zur Rezeption und wieder davonging. Als sie das Bild mit ihrer Erinnerung an Kiszka verglich, musste sie zugeben, dass die Ähnlichkeit nicht sehr groß war. »Lampart« war zwar ebenso muskelbepackt wie der hünenhafte Pole, allerdings mehr als einen halben Kopf kleiner. Außerdem wies sein wippender Gang auf einen viel jüngeren Mann hin. Höchstens Anfang dreißig.
    Kershaw wandte sich dem Band aus der Kamera zu, die auf die Drehtüren und die Hotelhalle gerichtet war – ihre letzte Chance, sich den Mann noch einmal anzusehen. Doch nachdem sie auf PLAY gedrückt hatte, hätte sie am liebsten vor Wut losgeschrien: Die Kamera war so hoch angebracht, dass man nur eine wunderbare Aussicht auf die Scheitel der Gäste hatte, während sie durch die Drehtüren kamen. Fluchend spulte sie sich bis 1:00 durch. Um 1:06 kam eine aufgekratzte Gruppe jüngerer Leute herein – offenbar Bürokollegen, die gefeiert hatten. Sie drängten sich gemeinsam durch die Tür. Die jungen Männer alberten herum und zupften einander an den Sakkos.
    Hinter der Gruppe und teilweise von ihr verdeckt, erschienen der Mann mit dem Hut und ein Mädchen, das, nach dem langen dunklen Haar zu urteilen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Justyna Kozlowska war. Die Aufnahme aus der Vogelperspektive verriet nicht viel: Offenbar hielt er sie am Ellbogen fest, doch ihre Körpersprache strahlte keine Angst aus. Die beiden schritten schnell und zielstrebig aus und waren drei Sekunden später nicht mehr im Bild.
    Nachdem Kershaw die Szene einige Male abgespielt hatte, kam sie zu zwei Schlussfolgerungen. Das sachliche Gebaren des Paares bestätigte ihre Vermutung, dass Justyna eine Professionelle war. Doch so ungern sie es auch zugab, handelte es sich bei dem Mann eindeutig nicht um Janusz Kiszka.
    Was sie vor ein Rätsel stellte – wie war seine Visitenkarte dann in ihren Mund geraten?

DREIZEHN
    Z wei Flaggen knatterten an Masten vor dem vierstöckigen georgianischen Gebäude. Die eine war rotweiß und zeigte das undurchdringliche Profil des polnischen Adlers, die andere den schmucklosen Kreis aus Sternen auf blauem Hintergrund, ein Hinweis auf die EU -Mitgliedschaft. Als Janusz durch den mit Stuck verzierten Torbogen der polnischen Botschaft schritt, dachte er daran, dass er für ein Treffen an einem so bedeutenden Ort wohl kaum richtig angezogen war. Doch Pater Pietruzki hatte darauf bestanden, dass sie sich dort verabredeten, um über »die schreckliche Nachricht« zu sprechen.
    Der Priester sagte, er dürfe die Veranstaltung nicht verpassen: Sie diente dem Zweck, Geld für die Stiftung Do Domu zu sammeln, die obdachlosen Polen in London half, nach Hause zurückzukehren. Janusz war in Stratford schon vielen gescheiterten Landsleuten begegnet. Für gewöhnlich waren es Männer aus ärmlichsten Verhältnissen, die zwar keine auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Qualifikationen vorweisen konnten, aber dennoch glaubten, sie bräuchten nur an der Victoria Station aus dem Bus zu steigen, um eine gut bezahlte Stelle antreten zu können. Irgendwann landeten sie dann mittellos auf der Straße und schämten sich, ihre Notlage der Familie zu Hause einzugestehen.
    Janusz war gerade dabei, einem arroganten Lakaien zu erklären, warum sein Name nicht auf der

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