Sündenfall: Roman (German Edition)
trinken zu gehen?«
Oho, dachte sie, will Ben Crowther sich mit mir verabreden?
»Ich treffe mich mit ein paar Leuten aus der Uni in der Stadt«, fuhr er fort. »Du findest sie sicher nett.«
Gut, dann also kein Rendezvous . Eigentlich war es auch besser so, dachte sie. Damals, in der Romford Road, hatte sie einmal mit einem Kollegen geschlafen, was sich wie ein Lauffeuer im ganzen Revier verbreitet hatte. Außerdem war es sowieso noch zu früh, um mit jemandem auszugehen – Mark war ja noch kaum zur Tür hinaus.
»Ja klar«, sagte sie. »Klingt gut.«
Sie fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage, schob, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, die schwere Tür mit der Aufschrift »Nur für den Brandfall« auf und klemmte ein Stück gefaltete Pappe darunter, damit sie auch wieder hineinkonnte. Sie hatte das Flachdach des Reviers vor ein paar Wochen entdeckt und es zu ihrem Refugium erklärt, wo sie in Ruhe nachdenken und lesen konnte.
Kershaw zündete sich eine Zigarette an und breitete die Metro aus, die sie sich als Sitzunterlage mitgebracht hatte. An einem milden, sonnigen Tag wie heute war die Aussicht auf London wie eine Szene aus einem Film: Der gewundene Fluss glitzerte, das London Eye in der Ferne sah aus wie ein verschwommenes »O«.
Nach einer halben Stunde Speed-Reading, eine Technik, die sie bis jetzt noch durch jede Prüfung gerettet hatte, fühlte sie sich wie eine Expertin in Sachen PMA , wenn auch nur eine amateurhafte. Offenbar war die Welt früher von den Niederlanden aus – von wo aus auch sonst? – mit synthetischen Drogen wie Ecstasy versorgt worden. Doch anscheinend hatte die holländische Polizei unter dem Druck der Amerikaner in den letzten zehn Jahren hart durchgegriffen und Dutzende von Drogenlabors geschlossen. Natürlich änderte das nichts an der Nachfrage nach E, sondern bedeutete nur, dass die Drogenbanden ihre Chemiekästen zusammengepackt und ihre Geschäfte in Länder verlegt hatten, wo die Behörden weniger gut ausgestattet waren: Estland, Litauen – und Polen, der feuchte Traum jedes Schmugglers, weil es die längste Grenze Europas besaß.
Allerdings hatten die Bösewichte inzwischen ein zusätzliches Problem: Mittlerweile wurde überall in Europa der Handel mit den zur Herstellung von E benötigten Chemikalien streng kontrolliert – und deshalb hatte nun die Stunde von PMA geschlagen. Es wirkte zwar ähnlich wie E, doch der Hauptbestandteil war ein harmloser Stoff namens Anethol – preiswert, in der Parfüm- und Lebensmittelindustrie vielfach im Einsatz und deshalb unmöglich zu überwachen.
Als Kershaw ihre Sitzposition veränderte, weil ihr allmählich der Hintern einschlief, raschelte die Zeitung unter ihr. Die Gleichung, die die Banden aufstellten, war von bestechender Schlichtheit: Warum teure und illegale Chemikalien auf dem Schwarzmarkt kaufen, um E zu produzieren, wenn man auch das spottbillige Anethol verwenden und die PMA -Tabletten als E verhökern konnte? Und falls die Kunden zu viele davon nahmen, weil die Wirkung länger auf sich warten ließ als bei E – tja, Pech gehabt. Das war so ähnlich wie bei gefälschten Handtaschen, dachte Kershaw. Nur, dass eine Gucci-Tasche aus Korea einem nicht die Eingeweide weichkochte.
Sie zündete sich noch eine Zigarette an – die dritte der fünf, die sie sich pro Tag gestattete – und ließ Revue passieren, was sie über Justyna Kozlowskas Tod wusste. Der Mann mit Hut von der Überwachungsaufnahme war eindeutig der Hauptverdächtige, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass Janusz Kiszka in die Sache verwickelt war. Warum sonst hätte Justyna seine Visitenkarte im Mund verstecken sollen? Vielleicht gehörte er ja zu einem Drogenring, der PMA herstellte und nach England schmuggelte. Aber weshalb hatte Justyna – und vielleicht auch Ela – sterben müssen?
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Waren die beiden Mädchen vielleicht zwischen die Fronten eines Drogenkriegs geraten? Sie erinnerte sich, dass Kiszka die Fäuste geballt hatte, als Pawel erwähnt worden war – der geheimnisvolle Mann, dessen Namen sich Ela auf den Po hatte tätowieren lassen. Falls zwischen den beiden Männern eine Fehde herrschte, war der große Unbekannte mit Hut möglicherweise Pawel und hatte Kiszkas Freundin ins Hotel gelockt, um sie zu ermorden.
Ein Windstoß fuhr zwischen die Seiten des Berichts und ließ Kershaw erschaudern. Ihr fiel noch etwas ein: Womöglich hatte nicht Justyna selbst, sondern der
Weitere Kostenlose Bücher