Sündenfall: Roman (German Edition)
noch die leichte Einkerbung an seinem linken Wangenknochen ausmachen – ein Andenken an die schweren Misshandlungen durch die Geheimpolizei, nachdem die milicja eine von ihm geleitete Kundgebung in Warschau gewaltsam aufgelöst hatte. Janusz war damals erst vierzehn gewesen, konnte sich aber noch gut an seine lodernde Empörung beim Anblick des verschwommenen Fotos von Zamorskis fast bis zur Unkenntlichkeit zerschlagenem Gesicht in dem samizdat – der Untergrundzeitschrift – erinnern, das heimlich unter den Schulpulten durchgereicht worden war.
Nachdem Janusz den Computer ausgeschaltet hatte, rief er Oskar an.
»Cze ść , kolego« , sagte er. »Was hältst du von einem Abstecher nach Hause?«
FÜNFZEHN
A m Freitag kurz vor sieben Uhr morgens, zwei Tage nach der Entdeckung von Justynas Leiche, schoss Oskars verbeulter Transporter aus dem Kreisverkehr in Stratford und fädelte sich in den Verkehrsstrom in Richtung Norden zur A12 ein, ohne dabei einen Deut langsamer zu werden.
»Als du einverstanden warst, mich nach Polen zu fahren, hast du den da nicht erwähnt«, schimpfte Janusz und wies mit dem Daumen nach hinten.
»Wo liegt das Problem, Janek? Was hast du gegen meinen Freund Olek?«, entgegnete Oskar mit Unschuldsmiene. »Ist er dir zu geschwätzig?«
Olek beteiligte sich nicht an dem Gespräch, was nicht weiter verwunderlich war, denn er war seit sechs Tagen tot.
Als Oskar Janusz zu Hause abgeholt hatte und er seine Tasche hinten in den Transporter hatte werfen wollen, hatte er festgestellt, dass eine weiße, schlampig mit Expandergurten verzurrte Kiste die Hälfte der Ladefläche einnahm. Wie er bald erfuhr, handelte es sich um einen doppelwandigen Bleisarg mit der Leiche eines Mannes, die Oskar nun nach Polen überführte.
Janusz seufzte auf. »Woran ist der arme Teufel denn eigentlich gestorben?«, fragte er.
»Auf einer dieser Wohnblockbaustellen ist ein T-Träger auf ihn draufgefallen. Sie mussten ihn mit einer Schaufel vom Asphalt abkratzen.« Bedrückt schüttelte Oskar den Kopf. »Die Baustelle war ein totaler Schweinestall, eine echte Todesfalle. Ich habe den Burschen nie kennengelernt, aber offenbar hat er drei Kinder. Am Tag nach dem Unfall haben wir für seine Witwe gesammelt.«
Die beiden Männer bekreuzigten sich und schwiegen eine Weile.
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum du dich inzwischen als Bestatter betätigst«, meinte Janusz schließlich.
»Geschäft, Janek, was sonst?« Oskar rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Der Bauunternehmer, für den Olek gearbeitet hat, hat gehört, dass ich nach Hause fahre, und mir zweitausend Euro angeboten, wenn ich den Toten zurück in seine Heimat bringe!« Er trommelte einen fröhlichen Wirbel aufs Lenkrad. »Das ist das Mindeste, was sie tun konnten, schließlich haben sie den Mann auf dem Gewissen.«
»Das ist sicher fantastik , Oskar, aber hast du vergessen, was ich dir gesagt habe? Der einzige Grund, die Fähre zu nehmen, war, dass wir uns bedeckt halten wollten, nur für den Fall, dass die kleine detektyva meinen Namen auf irgendeine schwarze Liste am Flughafen hat setzen lassen.« Janusz bemerkte, dass er in seiner Gereiztheit lauter sprach. »Könntest du mir also erklären, wie man sich bedeckt hält, wenn man eine gottverdammte Leiche an Bord einer Autofähre schmuggelt!«
»Ganz ruhig, Janek, sonst kriegst du noch ein Magengeschwür!«, erwiderte Oskar. »Ich habe dir doch erklärt, dass die Sache ganz offiziell ist. Der Typ vom Bauunternehmen hat alles mit dem Bestatter klargemacht und mir die amtlichen Formulare mitgegeben.« Er tastete mit einer Hand nach dem Handschuhfach vor Janusz und wühlte in der kleinen Lawine aus Bonbonpapieren und Strafzetteln herum, wobei er auf die Nebenfahrbahn geriet, was mit einem wütenden Hupkonzert quittiert wurde.
Fluchend bückte sich Janusz nach dem herausgefallenen Aktenbündel und blätterte es durch. Wenigstens schien sein Freund die nötigen Unterlagen mitgebracht zu haben – Sterbeurkunde, Bericht des Leichenbeschauers und was man sonst noch so brauchte. Außerdem hatte er kein Recht, sich zu beklagen. Oskar war ohne zu zögern einverstanden gewesen, seine geplante Schnaps-Einkaufstour nach Calais zu verschieben, um Janusz nach Polen zu fahren. Außerdem war es eine wahre Weltreise – erst achtzehn Stunden mit der Fähre nach Dänemark und dann noch zwölf Stunden Autofahrt die Ostseeküste entlang durch Deutschland. Also konnte man es Oskar nicht zum Vorwurf machen, dass er
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