Sündenfall: Roman (German Edition)
»Könnten Sie mir sein Büro zeigen?«
Die Dame mittleren Alters, die die Tür zum Büro des Rektors hütete, war nicht sehr hilfsbereit: Der Monsignore befinde sich gerade in einer Dienstbesprechung und habe gleich anschließend einen Termin mit dem Bischof. Die arrogante Art und die herablassende Miene der Sekretärin festigten Kershaws Gewissheit, dass ein Monsignore in der Welt dieser Frau einen um einiges höheren Stellenwert einnahm als eine aufdringliche Polizistin mit Cockney-Akzent.
»Sie können ja Ihre Visitenkarte hierlassen, Officer«, säuselte der Cerberus. »Ich frage den Herrn Direktor, wann er Zeit hat, Ihnen einen Termin einzuräumen.« Sie klang, als sei das Thema hiermit für sie erledigt.
Du hast vielleicht Nerven , dachte Kershaw. »Wirklich ein Jammer, dass er mich jetzt nicht empfangen kann«, sagte sie, rückte der Sekretärin auf die Pelle und betrachtete die Papiere auf ihrem Schreibtisch. »Ich wollte ihm eigentlich nur höflichkeitshalber mitteilen, dass ich im Begriff bin, das Wohnheim zu sperren und die Unterkünfte der Studenten von der Spurensicherung untersuchen zu lassen.«
Die Sekretärin schnappte empört nach Luft.
Im nächsten Moment kamen sechs oder sieben Männer aus dem Büro des Rektors, einige im Pinguindress, der auf ihren direkten Draht zum lieben Gott hinwies, andere im Straßenanzug. Sie sprachen laut und in selbstgefälligem Ton und gingen vorbei, ohne die beiden Frauen eines Blickes zu würdigen. Die Sekretärin nutzte die Gelegenheit, aufzuspringen, durch die offene Tür zu eilen und sie hinter sich zu schließen.
Dreißig Sekunden später war Kershaw ins Allerheiligste vorgedrungen. Doch anstatt des weißhaarigen alten Geistlichen, mit dem sie eigentlich gerechnet hatte, wurde sie von einem Mann mit frischen Gesichtszügen begrüßt, der schätzungsweise Ende dreißig war. Während sie sich die Hand schüttelten – ach, herrje, heute schon das zweite Mal , dachte Kershaw –, unterzog sie Monsignore Zielinski einer gründlichen Musterung: Priesterkragen unter einer schmal geschnittenen schwarzen Soutane mit fuchsiaroten Knöpfen, die seine schlanke Figur betonte. Als sich die Tür schloss, winkte er Kershaw zu einer Sitzecke am Fenster hinüber, die aus einem gedrungenen orangefarbenen Sofa, einem schwarzen Ledersessel und einem Nierentisch bestand – dezenter Retro-Chic, der sicher ein kleines Vermögen gekostet hatte.
»Mrs Beauregard hat etwas von einem Todesfall gesagt?«, fragte Monsignore Zielinski in ernstem Ton. Sein Englisch war perfekt – vermutlich ein Pole der zweiten Generation, sagte sich Kershaw.
Sie beugte sich vor und legte das Foto von Elzbieta zwischen sich und den Monsignore auf den Couchtisch. Nachdem er eine modische Metallbrille aufgesetzt hatte, zog er das Foto näher zu sich heran, betrachtete es und blinzelte einige Male.
»Erkennen Sie sie, Sir?«, fragte Kershaw. Sie war sicher, dass er es tat, es jedoch nur ungern zugab.
»Nun, ich kann nicht sicher sein, Officer, aber ja. Die Dame sieht ein wenig aus wie eine unserer Studentinnen. Tut mir leid, an ihren Namen kann ich mich leider nicht erinnern.« Er verzog reumütig das Gesicht. »Muss am Alter liegen.« Er nahm die Brille ab und blickte bedrückt ins Leere.
»Einer Ihrer Studenten, Timothy Lethbridge, hat sie als Elzbieta Wronska identifiziert«, entgegnete Kershaw. »Ich fürchte, dass Ms Wronska offenbar an einer Überdosis Drogen gestorben ist. Ihre Leiche wurde vor fünf Tagen aus der Themse geborgen.«
»Das ist ja entsetzlich«, stieß er hervor und sackte in seinem Sessel zusammen. »Ja, natürlich. Elzbieta war eine unserer Doktorandinnen und mit einem scharfen Verstand gesegnet.«
Der Monsignore starrte aus dem Fenster hinaus in den von Bäumen gesäumten Hof ein Stockwerk unter ihm. Studenten saßen, lesend oder mit Freunden ins Gespräch vertieft, auf den von der Sonne beschienenen Bänken zwischen silbrigen Birken, an deren Zweigen die noch zusammengerollten hellgrünen Blätter schimmerten. »Das große Abenteuer des Lebens, das noch vor ihr lag, einfach ausgelöscht«, sagte er, wie zu sich selbst.
Kershaws Blick fiel auf ein rothaariges Mädchen, das allein auf einer Bank direkt unter dem Fenster saß und einen Apfel aß. Der Anblick ließ sie an das Flussufer in Wapping und Elas weiße Hand, umgedreht in der Edelstahlwanne, denken.
»Ich brauche alle Informationen, die Sie über Elzbieta haben, da sie aufschlussreich für unsere Ermittlungen sein
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